Die Seele des Königs (German Edition)
eingeschätzt hatte?
Sie hatte ihre Aufzeichnungen in dem Buch absichtlich unklar gehalten; in jeder Bemerkung steckte eine feine Andeutung der Tatsache, wie gewaltig dieses Projekt war. Die kleine, gedrängte Schrift, die zahlreichen Querverweise, die vielen Listen, die sie an all das erinnern sollten, was noch zu tun war … Das alles würde zusammen mit dem dicken Buch als Ganzes deutlich zeigen, wie ungeheuer komplex ihre Arbeit war.
Es war eine Fälschung – eine der schwierigsten, denn sie imitierte nicht eine besondere Person oder einen Gegenstand, sondern eine Färbung, einen Tonfall.
Halte dich fern , sagte der Tonfall dieses Buches. Du willst nicht versuchen, das hier zu beenden. Du willst, dass Shai mit den schweren Teilen allein weitermacht, denn die Arbeit, die du selbst leisten müsstest, wäre gewaltig. Und wenn du versagst … dann steckt dein eigener Kopf in der Schlinge .
Dieses Buch war eine der subtilsten Fälschungen, die sie je hergestellt hatte. Jedes Wort darin war wahr und gleichzeitig eine Lüge. Nur ein Meisterfälscher konnte erkennen, wie viel Mühe sie darauf verwandt hatte, die Gefahren und Schwierigkeiten des Projekts aufzuzeigen.
Wie geschickt war Fravas Fälscher?
Würde Shai den Morgen noch erleben?
Sie konnte nicht mehr schlafen, obwohl sie es wollte und es gut für sie gewesen wäre. Es war unerträglich, Stunde um Stunde, Minute um Minute und Sekunde um Sekunde zu warten. Doch der Gedanke, dass sie schlafend im Bett lag, wenn ihre Häscher kamen, war noch unerträglicher.
Schließlich stand sie auf und kramte einige Berichte über Ashravans Leben hervor. Die Wächter, die an ihrem Tisch Karten spielten, warfen ihr einige rasche Blicke zu. Einer nickte ihr sogar mitfühlend zu, als er ihre roten Augen und die von Müdigkeit gebeugte Haltung bemerkte. » Licht zu hell?«, fragte er und deutete auf die Lampe.
» Nein«, sagte Shai. » Ich habe bloß einen Gedanken im Kopf, der mich nicht schlafen lässt.«
Sie verbrachte den Rest der Nacht damit, im Bett die Berichte über Ashravans Leben zu studieren. Es ärgerte sie, dass sie ihre Aufzeichnungen nicht mehr besaß, und so holte sie ein leeres Blatt Papier hervor und machte sich einige neue Notizen, die sie in ihr Buch eintragen würde, wenn sie es wiederbekam. Falls sie es wiederbekam.
Sie hatte das Gefühl, dass sie allmählich verstand, warum Ashravan seinen jugendlichen Optimismus verloren hatte. Zumindest kannte sie jetzt die Umstände, die ihn auf seinen Lebensweg geführt hatten. Korruption gehörte dazu, war aber nicht der Hauptgrund. Mangelndes Selbstvertrauen hatte ebenfalls eine Rolle gespielt, war aber auch nicht der entscheidende Faktor gewesen.
Nein, Ashravans Niedergang war vom Leben selbst bewirkt worden. Vom Leben im Palast, vom Leben als Rädchen im Getriebe des Reiches, das wie ein Uhrwerk ablief. Alles lief. Es lief zwar nicht so gut, wie es hätte laufen sollen. Aber es lief .
Sich dem entgegenzustellen, erforderte Kraft, und es war manchmal schwer, diese aufzubringen. Er hatte ein Leben in Muße geführt. Ashravan war nicht nachlässig gewesen, aber es bedeutete nicht unbedingt, dass man nachlässig war, wenn man von der kaiserlichen Bürokratie aufgesogen wurde und sich immer wieder vornahm, im nächsten Monat endlich Änderungen zu verlangen. Mit der Zeit war es immer leichter geworden, mit der Strömung des großen Flusses zu schwimmen, der das Reich der Rose darstellte.
Am Ende war er nachgiebig geworden. Er hatte sich mehr auf die Schönheit seines Palastes als auf die Lebensumstände seiner Untertanen konzentriert. Er hatte es den Schlichtern erlaubt, mehr und mehr Regierungsgeschäfte zu übernehmen.
Shai seufzte. Selbst dieses Bild von ihm war zu einfach. Es erläuterte nicht, wie der Kaiser früher gewesen und zu welcher Person er schließlich geworden war. Eine bloße Chronologie der Ereignisse verriet nichts über seine Stimmungen, über seine Freude an Streitgesprächen, sein Auge für Schönheiten oder seine Neigung, wirklich schreckliche Gedichte zu verfassen und dann zu erwarten, dass all seine Untergebenen ihm sagten, wie wundervoll sie doch seien.
Sie erwähnte auch nicht seine Überheblichkeit oder seinen geheimen Wunsch, jemand anderes zu sein. Das war der Grund, warum er sein Tagebuch immer wieder durchgeblättert hatte. Vielleicht hatte er nach der Stelle in seinem Leben gesucht, wo er den falschen Weg eingeschlagen hatte.
Er hatte es nicht verstanden. Im Leben eines
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