Die Seele des Königs (German Edition)
Shai , sagte sie zu sich selbst. Du brauchst eine andere Methode .
Sie hatte sechs Tage gewartet und nach einem anderen Ausweg gesucht. Sie hatte erwogen, die Wächter zu benutzen oder jemanden zu bestechen, damit sie einen Hinweis auf die Natur ihrer Zelle erhielt. Aber bisher hatte nichts …
Hoch über ihr wurde die Klappe des Verlieses geöffnet.
Shai sprang auf die Beine und steckte den Gabelgriff in den Hosenbund hinter dem Rücken. War ihre Hinrichtung vorverlegt worden?
Schwere Stiefel hallten auf den Stufen wider, die zum Kerker hinunterführten, und sie blinzelte die Männer an, die nun über ihrer Zelle erschienen. Vier davon waren Wächter; sie begleiteten einen Mann mit schmalem Gesicht und langen Fingern. Es war ein Erhabener – einer von denen, die das Reich führten. Seine Robe aus Blau und Grün deutete an, dass er ein niederer Funktionär war, der zwar die Aufnahmeprüfungen für den Regierungsdienst bestanden hatte, aber noch nicht im Rang aufsteigen konnte.
Shai wartete angespannt.
Der Erhabene beugte sich herunter und betrachtete sie durch das Fallgitter. Er hielt einen Augenblick lang inne, dann bedeutete er den Wachen, es zu öffnen. » Die Schlichter wollen dich befragen, Fälscherin.«
Shai wich zurück, als sie das Gitter in der Zellendecke aufzogen und dann eine Leiter herunterließen. Vorsichtig kletterte sie die Sprossen hoch. Wenn sie jemanden zu einer vorverlegten Hinrichtung antreten lassen müsste, dann würde sie den Häftling glauben machen, dass es um etwas anderes ging, damit er keinen Widerstand leistete. Doch als sie Shai aus dem Kerker führten, legten sie ihr keine Fesseln an.
Der Weg, den sie nahmen, machte es wahrscheinlich, dass sie Shai tatsächlich zum Dienstzimmer der Schlichter brachten. Shai beruhigte sich wieder. Also würde sie sich einer neuen Herausforderung stellen müssen. Ob sich daraus vielleicht eine Gelegenheit zur Flucht ergab? Sie hätte sich nicht erwischen lassen dürfen, doch daran war jetzt nichts mehr zu ändern. Der kaiserliche Narr hatte sie verraten, nachdem sie endlich zu der Überzeugung gekommen war, dass sie ihm vertrauen konnte. Er hatte ihr gefälschtes Exemplar des Mondzepters gegen das Original ausgetauscht und war damit entwischt.
Shais Onkel Won hatte sie gelehrt, dass es immer jemanden gab, der besser und gewitzter war als man selbst. Wenn man das nicht vergaß, bestand nicht die Gefahr, zu selbstsicher und dadurch nachlässig zu werden.
Beim letzten Mal hatte sie verloren. Doch jetzt würde sie gewinnen. Sie schob den Ärger über ihre Gefangennahme beiseite und wurde zu einer Person, die mit dieser neuen Gelegenheit umgehen konnte, um was es sich auch immer handeln mochte. Shai würde sie ergreifen und sich zunutze machen.
Diesmal spielte sie nicht um Reichtümer, sondern um ihr Leben.
Die Wächter waren Greifer – das zumindest war der Name, den die Erhabenen ihnen gegeben hatten. Einst hatten sie sich Mulla’dil genannt, aber ihre Nation war schon vor so langer Zeit in das Reich einverleibt worden, dass nur noch wenige diesen Namen benutzten. Die Greifer waren von großer Gestalt, hatten kräftige Muskeln und eine blasse Haut. Ihr Haar war fast so dunkel wie das von Shai, das jedoch glatt und lang war, während die Greifer Locken trugen. Sie bemühte sich mit gewissem Erfolg, neben ihnen nicht wie ein Zwerg zu wirken. Ihr eigenes Volk, die MaiPon, waren nicht gerade wegen ihrer Körpergröße berühmt.
» Du«, sagte sie zu dem Anführer der Greifer, während sie an der Spitze der Gruppe ging. » Ich erinnere mich an dich.« Seinem sorgfältig frisierten Haar nach zu urteilen, trug der jugendliche Hauptmann nicht oft einen Helm. Die Greifer wurden von den Erhabenen wohlwollend betrachtet, und bisweilen kam es vor, dass sie aufstiegen. Dieser hier wirkte sehr ehrgeizig. Die polierte Rüstung, das schneidige Gebaren … Ja, er hielt sich dafür geeignet, in der Zukunft wichtige Aufgaben zu übernehmen.
» Das Pferd«, sagte Shai. » Du hast mich über den Rücken deines Pferdes geworfen, nachdem ich gefangen genommen wurde. Ein großes Tier, von gurischer Abstammung, reines Weiß. Gutes Tier. Du verstehst etwas von Pferdefleisch.«
Der Greifer hielt den Blick starr geradeaus gerichtet, aber er flüsterte ihr zu: » Ich werde es genießen, dich zu töten, Frau.«
Wie nett , dachte Shai, während sie den Kaiserflügel des Palastes betraten. Das Mauerwerk hier war wunderbar, im uralten Lamio-Stil ausgeführt, und die
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