Die Seele des Königs (German Edition)
kennen, um die Heilung korrekt durchführen zu können.
Die Neusiegelung war eine der wenigen Zweige des Fälschens, die Shai nicht eingehend studiert hatte. Wenn man eine gewöhnliche Fälschung verpatzte, erschuf man ein Werk von nur geringem künstlerischem Wert. Wenn man aber eine Fleischfälschung nicht richtig durchführte, starb ein Mensch.
» Unsere Neusiegler sind die besten der Welt«, sagte Frava, während sie das Fußende des Bettes umrundete; dabei hielt sie die Hände hinter dem Rücken verschränkt. » Der Kaiser wurde sofort nach dem Mordversuch behandelt. Die Wunde in seinem Kopf konnte geheilt werden, aber …«
» Aber nicht sein Geist?«, fragte Shai und fuhr abermals mit der Hand vor dem Gesicht des Mannes hin und her. » Das klingt nicht so, als ob sie ihre Arbeit sehr gut gemacht hätten.«
Einer der Ärzte räusperte sich. Der kleine Mann hatte Ohren wie Fensterläden, die an einem sonnigen Tag weit aufgestoßen worden waren. » Das Neusiegeln heilt den Körper und erneuert ihn. Es ist jedoch so, als würde man ein Buch nach einer Feuersbrunst mit frischem Papier neu einbinden. Es mag zwar genauso aussehen wie vorher, und es mag auch durch und durch wiederhergestellt sein. Aber die Wörter … die Wörter sind verschwunden. Wir haben dem Kaiser ein neues Hirn gegeben. Es ist lediglich leer.«
» Hm«, meinte Shai. » Habt Ihr herauszufinden versucht, wer ihn töten wollte?«
Die fünf Schlichter wechselten rasche Blicke. Ja, sie wussten es.
» Wir sind uns nicht sicher«, sagte Gaotona.
» Das heißt, Ihr wisst es, aber Ihr könnt es nicht beweisen und daher keine Anklage erheben«, fügte Shai hinzu. » Es handelt sich also um eine der anderen Fraktionen am Hof?«
Gaotona seufzte. » Um die Fraktion des Ruhmes.«
Shai stieß einen leisen Pfiff aus. Das ergab durchaus einen Sinn. Wenn der Kaiser starb, bestand die Möglichkeit, dass die Fraktion des Ruhmes die Erlaubnis erhielt, seinen Nachfolger zu stellen. Mit seinen vierzig Jahren war Kaiser Ashravan nach den Maßstäben der Erhabenen noch jung. Es war erwartet worden, dass er noch mindestens fünfzig weitere Jahre regieren würde.
Aber wenn er nun ersetzt würde, dann verloren die fünf Schlichter in diesem Raum ihre Aufgabe, und das wäre ein gewaltiger Schlag für ihre gesellschaftliche Stellung. Sie würden von den mächtigsten Menschen in der Welt zu Mitgliedern der unbedeutendsten der achtzig Fraktionen des Reiches.
» Die Attentäter haben ihren Angriff nicht überlebt«, sagte Frava. » Die Fraktion des Ruhmes weiß noch nicht, ob ihr Anschlag erfolgreich war. Du wirst die Seele des Kaisers durch …« Sie holte tief Luft. » … durch eine Fälschung ersetzen.«
Sie sind verrückt , dachte Shai. Die eigene Seele zu fälschen, war schon schwierig genug, und diese musste nicht von Grund auf neu erschaffen werden.
Die Schlichter hatten keine Ahnung, worum sie da baten. Natürlich hatten sie keine Ahnung. Sie hassten das Handwerk des Fälschens; zumindest behaupteten sie das. Sie schritten über nachgemachte Bodenplatten an den Kopien antiker Vasen vorbei, und ihre Ärzte stellten Körper wieder her, aber all das nannten sie in ihrer Sprache nicht » Fälschung«.
Die Fälschung der Seele hingegen sahen sie als Gräuel und Abscheulichkeit an. Das bedeutete, dass Shai ihre einzige Möglichkeit war. Niemand in ihrer eigenen Regierung wäre zu so etwas in der Lage. Und Shai konnte es möglicherweise genauso wenig.
» Schaffst du das?«, fragte Gaotona.
Ich habe keine Ahnung , dachte Shai. » Ja«, sagte sie.
» Es muss eine exakte Fälschung sein«, sagte Frava streng. » Wenn die Fraktion des Ruhmes herausfinden sollte, was wir getan haben, wird sie zuschlagen. Die Handlungen des Kaisers müssen absolut folgerichtig sein.«
» Ich habe gesagt, dass ich das schaffe«, erwiderte Shai. » Aber es wird schwierig sein. Ich brauche alle Informationen über Ashravan und sein Leben, die Ihr beschaffen könnt. Die Geschichtsbücher wären ein guter Anfang, aber sie sind zu steril. Ich brauche ausgiebige schriftliche und mündliche Zeugnisse von denen, die ihn am besten kennen. Diener, Freunde, Familienmitglieder. Hat er ein Tagebuch geführt?«
» Ja«, sagte Gaotona.
» Ausgezeichnet.«
» Diese Dokumente sind unter Verschluss«, sagte einer der anderen Schlichter. » Er wollte, dass sie vernichtet werden …«
Alle im Zimmer sahen den Mann an. Er schluckte und senkte den Blick.
» Du wirst alles erhalten, was du
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