Die Seele des Königs (German Edition)
brauchst«, sagte Frava.
» Außerdem benötige ich ein Testobjekt«, erklärte Shai. » Jemanden, an dem ich meine Fälschungen auf die Probe stellen kann. Einen Erhabenen, einen Mann – jemanden, der engen Umgang mit dem Kaiser pflegte und ihn gut kannte. An ihm muss ich überprüfen, ob ich die Persönlichkeit gut getroffen habe.« Dunkle Nacht! Die Persönlichkeit gut zu treffen war zweitrangig. Der erste Schritt bestand darin, einen Stempel zu erschaffen, der wirklich hielt. Sie war sich nicht einmal sicher, ob ihr das gelingen würde. » Und natürlich brauche ich einen Seelenstein.«
Frava sah Shai an und verschränkte die Arme vor der Brust.
» Ihr könnt nicht von mir erwarten, dass ich das ohne einen Seelenstein schaffe«, sagte Shai trocken. » Ich könnte mir zwar einen Stempel aus Holz schnitzen, wenn es unbedingt sein muss, aber die Aufgabe, die Ihr mir stellt, ist auch so schon schwierig genug. Ich brauche einen Seelenstein. Einen großen.«
» In Ordnung«, sagte Frava. » Aber in den nächsten drei Monaten wirst du unter strengster Beobachtung stehen.«
» Drei Monate ?«, fragte Shai. » Ich gehe davon aus, dass es mindestens zwei Jahre in Anspruch nehmen wird.«
» Du hast hundert Tage«, sagte Frava. » Genau genommen sind es jetzt nur noch achtundneunzig.«
Unmöglich .
Einer der anderen Schlichter erklärte: » Der Grund dafür, warum der Kaiser in den letzten zwei Tagen nicht mehr gesehen wurde, liegt offiziell darin, dass er den Tod seiner Frau betrauert. Die Fraktion des Ruhmes wird annehmen, dass wir nach dem Tod des Kaisers Zeit herausschinden wollen. Sobald aber die hundert Tage Abgeschiedenheit verstrichen sind, wird diese Fraktion verlangen, dass sich Ashravan dem Hof zeigt. Wenn er es nicht tut, sind wir erledigt.«
Und du auch , schien der Tonfall der Frau anzudeuten.
» Für diese Aufgabe will ich Gold haben«, sagte Shai. » Nehmt die Summe, die ich nach Eurer Meinung fordern werde, und verdoppelt sie. Ich werde dieses Land als reiche Frau verlassen.«
» In Ordnung«, sagte Frava.
Das war zu einfach , dachte Shai. Wie nett. Man hatte vor, sie umzubringen, sobald das hier vorbei war.
Nun, ihr blieben noch achtundneunzig Tage, um einen Ausweg zu suchen. » Besorgt mir diese Aufzeichnungen«, sagte sie. » Ich brauche einen Ort für meine Arbeit, eine Menge Vorräte und meine eigenen Sachen.« Sie hob einen Finger, bevor die anderen etwas einwenden konnten. » Nicht meine Wesenspräger, aber alles andere. Ich habe nicht vor, drei Monate lang in derselben Kleidung zu arbeiten, die ich schon im Kerker getragen habe. Und wenn ich es mir recht überlege, soll mir erst einmal jemand ein Bad einlassen.«
TAG DREI
A ls Shai am nächsten Tag gebadet, gegessen und zum ersten Mal seit ihrer Gefangennahme gut geschlafen hatte, klopfte es an ihrer Tür.
Sie hatten ihr ein eigenes Zimmer gegeben. Es war winzig und vermutlich das tristeste im gesamten Palast, und es roch schwach nach Schimmel. Natürlich war sie die ganze Nacht hindurch von Wächtern beobachtet worden, und wenn ihre Erinnerung an den Grundriss des riesigen Palastes sie nicht trog, befand sie sich in einem der ruhigsten Flügel, der hauptsächlich zur Lagerung benutzt wurde.
Aber es war besser als eine Zelle – wenn auch nur ein wenig.
Als es klopfte, hob Shai den Blick von dem alten Zederntisch des Zimmers. Vermutlich war er schon länger nicht mehr eingewachst worden, als Shai an Jahren zählte. Einer ihrer Wächter öffnete die Tür und ließ den alten Schlichter Gaotona herein. Er trug eine Kiste, die zwei Handspannen breit und einige Zoll hoch war.
Shai eilte auf ihn zu, was ihr einen bösen Blick von Hauptmann Tzu einbrachte, der neben dem Schlichter stand. » Halte Abstand von Seiner Gnaden«, knurrte Tzu.
» Oder was sonst?«, fragte Shai und nahm die kleine Kiste entgegen. » Willst du mich abstechen?«
» Eines Tages werde ich mir einen Spaß daraus machen, dich …«
» Ja, ja«, sagte Shai, ging zurück zum Tisch und klappte den Deckel der Schachtel auf. Darin lagen achtzehn Seelenstempel mit glatten, ungravierten Köpfen. Sie verspürte eine starke Erregung, nahm einen der Stempel heraus und betrachtete ihn.
Sie hatte ihre Brille zurückbekommen und musste nicht mehr blinzeln. Außerdem trug sie nicht länger dieses schäbige und schmutzige Kleid, sondern einen viel besser passenden glatten, roten Rock in Wadenlänge sowie eine geknöpfte Bluse. Die Erhabenen mochten es als unmodisch ansehen,
Weitere Kostenlose Bücher