Die Seele des Königs (German Edition)
wenigen Ecken lagen noch Schatten. Sie wollte zum Ende kommen; sie sehnte sich danach herauszufinden, ob sie ihn wieder zum Leben erwecken konnte. Nachdem sie so viel über ihn gelesen und den Eindruck gewonnen hatte, ihn gut genug zu kennen, musste sie es beenden.
Ihre Flucht konnte sicherlich bis dahin warten.
» Das war er, nicht wahr?«, fragte Gaotona. » Das war der Stempel, den du ein Dutzendmal ohne Erfolg ausprobiert hast – das Siegel, das den Grund in sich birgt, warum er zum Kaiser wurde.«
» Ja«, sagte Shai.
» Seine Beziehung zu mir«, sagte Gaotona. » Du hast seine Entscheidung von seiner Beziehung zu mir abhängig gemacht, und … und von dem Gefühl der Scham, als er mit mir darüber gesprochen hat.«
» Ja.«
» Und es hat gehalten.«
» Ja.«
Gaotona lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. » Mutter des Lichts …«, flüsterte er noch einmal.
Shai nahm das Siegel und legte es zu jenen, deren Wirksamkeit sie bereits überprüft hatte.
Während der letzten Wochen hatte jeder der anderen Schlichter das getan, was Frava bereits vor ihnen getan hatte. Sie waren zu Shai gekommen und hatten ihr fantastische Versprechungen gemacht, wenn sie ihnen die vollständige Kontrolle über den Kaiser verschaffte. Nur Gaotona hatte nie versucht, sie zu bestechen. Er war ein aufrichtiger Mann und befand sich doch im höchsten Rang der kaiserlichen Regierung. Bemerkenswert. Es war viel schwieriger, sich seiner zu bedienen, als sie es für möglich gehalten hatte.
» Ich muss schon sagen«, meinte sie und drehte sich zu ihm um, » dass Ihr mich beeindruckt habt. Ich glaube nicht, dass sich viele Erhabene die Zeit nehmen würden, Seelenstempel zu untersuchen. Sie würden dem, was sie für böse halten, aus dem Weg gehen, ohne je den Versuch zu machen, es zu verstehen. Seid Ihr zu anderen Ansichten gelangt?«
» Nein«, sagte Gaotona. » Ich bin noch immer der Meinung, dass das, was du tust, vielleicht nicht böse, aber auf alle Fälle unheilig ist. Doch wer bin ich denn, dass ich so etwas sage? Ich bin von dir abhängig, damit unsere Macht durch deine Kunst gesichert wird, die wir ein Gräuel und eine Abscheulichkeit nennen. Unser Hunger nach Macht verdrängt unser Gewissen.«
» Das stimmt, was die anderen angeht«, sagte Shai, » aber es ist nicht Euer persönliches Motiv.«
Er hob eine Braue.
» Ihr wollt bloß Ashravan zurückhaben«, meinte Shai. » Ihr weigert Euch hinzunehmen, dass Ihr ihn verloren habt. Ihr habt ihn wie einen Sohn geliebt. Ihr habt ihn unterrichtet, als er jung war, und Ihr habt immer an den Kaiser geglaubt, obwohl er nicht einmal an sich selbst geglaubt hat.«
Gaotona wandte den Blick ab; ihm war eindeutig unbehaglich zumute.
» Er wird nicht mehr derselbe sein«, sagte Shai. » Selbst wenn ich Erfolg haben sollte, wird er es nicht wirklich sein. Aber das wisst Ihr natürlich.«
Er nickte.
» Aber … manchmal ist eine geschickte Fälschung genauso gut wie das Original«, fuhr Shai fort. » Ihr stammt aus der Fraktion des Erbes. Ihr umgebt Euch mit Relikten, die nicht einmal echte Antiquitäten sind. Eure Bilder sind Nachahmungen von Kunstwerken, die vor langer Zeit verloren gegangen sind. Ich vermute, da ist ein gefälschter Kaiser kaum anders. Und Ihr selbst … Ihr wollt bloß die Bestätigung erhalten, dass Ihr alles getan habt, was Ihr konntet. Für ihn.«
» Wie machst du das?«, fragte Gaotona leise. » Ich habe gesehen, wie du mit den Wächtern sprichst und sogar die Namen der Diener erfährst. Du scheinst ihre Familienverhältnisse zu kennen und zu wissen, was sie am Abend machen … und dennoch verbringst du jeden einzelnen Tag eingesperrt in diesem Zimmer. Du hast es seit Monaten nicht verlassen. Woher weißt du all diese Dinge?«
Shai nahm ein weiteres Siegel und hob es an. » Es liegt in der Natur der Menschen«, sagte sie, » Macht über alles auszuüben, was sich in ihrer Nähe befindet. Wir errichten Mauern, die uns vor dem Wind schützen, und Dächer gegen den Regen. Wir zähmen die Elemente und stutzen die Natur nach unserem Willen zurecht. Das gibt uns das Gefühl, dass wir die Kontrolle haben.
Doch dadurch ersetzen wir einen Einfluss lediglich durch einen anderen. Nun wirkt der Wind nicht mehr auf uns ein, wohl aber die Wand. Eine von Menschen gemachte Wand. Die Fingerzeige menschlichen Einflusses sind überall um uns herum: von Menschen gemachte Teppiche, von Menschen gemachtes Essen. Jeder einzelne Gegenstand in der Stadt, den wir berühren, sehen,
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