Die Seele des Königs (German Edition)
spüren, erfahren , ist das Ergebnis des Einflusses irgendeiner Person.
Wir fühlen uns vielleicht, als hätten wir die Kontrolle, aber wir haben sie erst dann wirklich, wenn wir die Menschen verstehen. Bei der Kontrolle über unsere Umgebung geht es nicht mehr darum, den Wind abzuhalten, sondern es geht um das Wissen, warum die Dienerin in der letzten Nacht geweint hat oder warum ein bestimmter Wächter stets beim Kartenspiel verliert. Oder warum man von seinem Arbeitgeber eingestellt wurde.«
Gaotona sah sie an, als sie sich setzte und ihm ein weiteres Siegel entgegenhielt. Zögernd bot er ihr den Arm an. » Mir scheint«, sagte er, » dass wir dich unterschätzt haben, Frau, obwohl wir uns alle erdenkliche Mühe gegeben haben, gerade das nicht zu tun.«
TAG SECHSUNDSIEBZIG
I ch muss es tun , dachte Shai, als der Blutsiegler ihren Arm ritzte. Heute. Ich könnte heute von hier weggehen .
In ihrem anderen Ärmel hatte sie ein Blatt Papier verborgen, das genauso aussah wie jene, die der Blutsiegler morgens oft mitbrachte, wenn er früh erschien.
Vor zwei Tagen hatte sie auf einem von ihnen ein wenig Wachs bemerkt. Es waren Briefe. Und allmählich hatte sie begriffen. Sie hatte sich die ganze Zeit in diesem Mann geirrt. » Gute Neuigkeiten?«, fragte sie, als er seinen Stempel mit ihrem Blut tränkte.
Der weißlippige Mann grinste sie höhnisch an.
» Aus der Heimat«, meinte Shai. » Von der Frau in Dzhamar, der du schreibst. Sie hat dir heute einen Brief geschickt? Hier im Palast kommt die Post immer morgens. Man klopft an deine Tür, händigt dir einen Brief aus …« Und das weckt dich , fügte sie stumm hinzu. Deshalb kommst du an diesen Tagen pünktlich . » Du musst sie sehr vermissen, wenn du es nicht ertragen kannst, ihren Brief in deinem Zimmer zurückzulassen.«
Der Mann senkte den Arm und packte Shai an ihrem Hemd. » Lass sie in Ruhe, du Hexe«, zischte er. » Du … Lass sie in Ruhe! Keine Tricks oder Magie!«
Er war jünger, als sie vermutet hatte. Bei den Dzhamarianern irrte man sich oft. Ihre weißen Haare und die weiße Haut machten sie für Außenstehende irgendwie alterslos. Aber Shai hätte es besser wissen müssen. Er war fast noch ein Kind.
Sie kniff die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. » Du redest über meine Tricks und meine Magie, während du ein Siegel in der Hand hältst, das mit meinem Blut getränkt ist? Du bist doch derjenige, der gedroht hat, Skelette auf mich zu hetzen, mein Freund. Ich kann lediglich hin und wieder einen alten Tisch aufpolieren.«
» Aber … aber … ah!« Der junge Mann warf die Hände hoch und stempelte dann die Tür.
Die Wachen sahen mit Belustigung und gleichzeitiger Missbilligung zu. Shais Worte hatten zum Ausdruck bringen sollen, dass sie selbst völlig harmlos war, während der Blutsiegler der wahrhaft unnatürliche von ihnen beiden war. Die Wächter hatten sie fast drei Monate dabei beobachtet, wie sie ihre Nase in die Bücher steckte, während dieser Mann sie jeden Tag zur Ader ließ und ihr Blut für seine unheimlichen Schrecken benutzte.
Ich muss das Papier fallen lassen , dachte sie und senkte den Ärmel. Sie wollte, dass ihre Fälschung herausrutschte, als sich die Wachen abwandten. Das würde ihren Fluchtplan in Gang setzen …
Die wahre Fälschung ist noch nicht fertig. Die Seele des Kaisers .
Sie zögerte. Dummerweise zögerte sie.
Die Tür wurde geschlossen.
Die Gelegenheit war verstrichen.
Shai fühlte sich wie betäubt, ging zu ihrem Bett und setzte sich auf die Kante. Der gefälschte Brief steckte noch immer in ihrem Ärmel. Warum hatte sie gezögert? War ihr Sinn für Selbstschutz tatsächlich so schwach ausgeprägt?
Ich kann durchaus noch ein wenig warten , sagte sie sich. Bis Ashravans Wesenspräger fertig ist .
Das sagte sie sich nun schon seit einigen Tagen. Seit Wochen. Jeder Tag, den sie näher an den festgelegten Zeitpunkt herankam, gab Frava eine weitere Gelegenheit zuzuschlagen. Immer wieder kam die Frau mit neuen Ausreden zu Shai und nahm deren Notizbuch mit. Sie näherten sich dem Punkt, an dem der andere Fälscher nicht mehr viel tun musste, um Shais Werk allein zu vollenden.
Zumindest würde er das irgendwann glauben. Je weiter sie aber fortschritt, desto deutlicher erkannte sie, dass es unmöglich war, dieses Projekt durchzuführen. Und umso mehr sehnte sie sich danach, es trotzdem zu schaffen.
Sie holte ihr Buch über das Leben des Kaisers hervor und sah die Welt bald durch seine jugendlichen Augen.
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