Die Seele des Königs (German Edition)
Der Gedanke, dass er nicht mehr leben würde und ihr ganzes Werk nichts anderes als ein großer Betrug war, der zur Ablenkung dienen sollte, während sie ihre Flucht plante … dieser Gedanke verursachte ihr körperliche Schmerzen.
Dunkle Nacht! , dachte Shai. Du magst ihn allmählich. Du siehst ihn inzwischen so, wie Gaotona ihn sieht! Sie sollte solche Gefühle nicht hegen. Sie war ihm nie persönlich begegnet. Außerdem war er eine verachtenswerte Person.
Aber er war nicht immer so gewesen. Nein, in Wirklichkeit war er nie vollkommen verachtenswert geworden. Er war vielschichtiger. Wie jeder Mensch. Sie konnte ihn verstehen, sie konnte sehen …
» Dunkle Nacht!«, rief sie aus, erhob sich und legte das Buch beiseite. Sie musste einen klaren Kopf bekommen.
Als Gaotona sechs Stunden später das Zimmer betrat, drückte Shai gerade ein Siegel gegen eine der Wände. Der alte Mann öffnete die Tür und trat ein, dann erstarrte er, als die Wand von Farben überflutet wurde.
Rankenmuster liefen von Shais Stempel aus wie farbige Gischt. Grün, Scharlachrot, Bernsteinfarben. Das Gemälde wuchs wie etwas Lebendiges, Blätter sprossen aus Zweigen, fleischige Früchte traten hervor. Dichter und dichter wurde das Muster; goldene Bordüren erschienen aus dem Nichts, flossen wie Bäche dahin, rahmten Blätter ein, spiegelten das Licht wider.
Das Wandgemälde wurde immer dichter; jeder Zoll war durchtränkt von der Illusion der Bewegung. Ranken wanden sich, unerwartete Dornen reckten sich hinter Gezweig hervor. Gaotona zog beeindruckt die Luft ein und stellte sich neben Shai. Hinter ihm trat Tzu ein, und die beiden anderen Wächter verließen den Raum und schlossen die Tür hinter sich.
Gaotona streckte die Hand aus und betastete die Wand, doch natürlich war die Farbe trocken. Soweit die Wand wusste, war sie vor vielen Jahren auf diese Weise bemalt gewesen. Gaotona kniete nieder und betrachtete die beiden Siegel, die Shai am unteren Rand des Gemäldes angebracht hatte. Erst das dritte am oberen Ende hatte die Verwandlung bewirkt; die früheren Siegel waren nur Anweisungen, wie das Bild erschaffen werden sollte. Sie waren Richtlinien und zugleich eine Überarbeitung der Geschichte dieser Wand.
» Wie?«, fragte Gaotona.
» Einer der Greifer hat Atsuko von Jindo während seines Besuchs im Rosenpalast bewacht«, erklärte Shai. » Atsuko war krank geworden und drei Wochen an sein Zimmer gefesselt. Und das befand sich nur ein Stockwerk über uns.«
» Deine Fälschung hat ihn in diesen Raum verlegt?«
» Ja. So hat das Zimmer ausgesehen, bevor im letzten Jahr Wasser durch die Decke gedrungen ist, also wäre es nachvollziehbar, dass Atsuko hierhergebracht wurde. Die Wände erinnern sich daran, dass er viele Tage lag zu schwach war, das Bett zu verlassen, aber er hatte genug Kraft zum Malen. Ein wenig nur an jedem Tag, ein wachsendes Muster von Ranken, Blättern und Beeren. Damit hat er sich die Zeit vertrieben.«
» Das dürfte keinen Bestand haben«, sagte Gaotona. » Diese Fälschung ist unsicher. Du hast zu vieles verändert.«
» Nein«, erwiderte Shai. » Sie orientiert sich an der Linie der größten Schönheit.« Shai nahm das Siegel ab. Sie erinnerte sich kaum an die letzten sechs Stunden, denn sie hatte in einem Rausch der Schöpfung gesteckt.
» Aber …«, sagte Gaotona.
» Es wird halten«, unterbrach Shai ihn. » Wenn Ihr diese Wand wäret, was würdet Ihr lieber sein? Blank und langweilig, oder lebendig und voller Farbe?«
» Wände können nicht denken!«
» Das hält sie aber nicht davon ab, sich um sich selbst zu kümmern.«
Gaotona schüttelte den Kopf und murmelte etwas über Aberglauben. » Wie lange?«
» Für die Erschaffung dieses Seelenstempels? Ich habe während des letzten Monats immer wieder an ihm herumgeschnitzt. Es war das Letzte, was ich für dieses Zimmer tun wollte.«
» Der Künstler war ein Jindoeese«, sagte er. » Vielleicht liegt der Grund darin, dass du und er aus demselben Volk stammt … Aber nein! Das wäre ein Gedanke, der zu deinem Aberglauben passt.« Gaotona schüttelte den Kopf und versuchte wohl herauszufinden, warum das Wandgemälde hielt, obwohl dies für Shai von vornherein klar gewesen war.
» Die Jindoeese und mein Volk sind übrigens nicht identisch«, sagte Shai gereizt. » Wir mögen zwar gemeinsame Wurzeln haben, aber inzwischen sind wir vollkommen verschieden voneinander.« Nur weil Menschen ein ähnliches Aussehen hatten, nahmen die Erhabenen sogleich an,
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