Die Seele des Königs (German Edition)
Menschen gab es nur selten eine deutlich erkennbare Gabelung. Veränderungen geschahen langsam und über große Zeiträume hinweg. Man machte nicht einfach einen Schritt und fand sich in einer völlig neuen Umgebung wieder. Zuerst trat man ein wenig zur Seite, weil man einigen Felsbrocken ausweichen wollte. Dann ging man neben dem ursprünglichen Pfad her, weil hier der Boden weicher und angenehmer war. Dann bemerkte man nicht mehr, wie man weiter und weiter vom Weg abkam. Und schließlich fand man sich in der falschen Stadt wieder und fragte sich, warum einen die Schilder an der Straße nicht besser geleitet hatten.
Die Tür zu ihrem Zimmer wurde geöffnet.
Shai ruckte im Bett hoch und hätte fast ihre Aufzeichnungen fallen lassen. Nun wurde sie abgeholt.
Aber … nein, es war schon Morgen. Das Licht tröpfelte durch das Bleiglasfenster, und die Wächter erhoben und reckten und streckten sich. Derjenige, der die Tür geöffnet hatte, war der Blutsiegler. Er wirkte schon wieder verkatert und hielt einen Stapel Papier in der Hand, wie er es oft tat.
Heute Morgen ist er früh dran , dachte Shai und warf einen Blick auf ihre Taschenuhr. Warum kommt er diesmal so zeitig, wo er doch oft viel später erscheint?
Der Blutsiegler ritzte ihre Haut; in Shais Arm brannte der Schmerz. Er stempelte wortlos die Tür und eilte aus dem Raum, als habe er eine wichtige Verabredung. Shai sah ihm nach und schüttelte den Kopf.
Einen Augenblick später wurde die Tür abermals geöffnet, und Frava trat ein.
» Oh, du bist schon wach«, sagte die Frau, als die Greifer vor ihr salutierten. Frava warf Shais Buch auf den Tisch; es verursachte ein dumpfes Geräusch. Sie wirkte verärgert. » Die Schreiber sind fertig damit. Mach dich wieder an die Arbeit.«
Frava verließ hektisch den Raum. Shai lehnte sich in ihrem Bett zurück und seufzte vor Erleichterung. Ihre List war erfolgreich gewesen. Nun hatte sie sich noch einige weitere Wochen Zeit verschafft.
TAG SECHZIG
D ieses Symbol«, sagte Gaotona und deutete auf eine von Shais Zeichnungen der größeren Stempel, die sie bald schnitzen würde, » ist also die Darstellung eines bestimmten Augenblicks … vor sieben Jahren?«
» Ja«, sagte Shai und wischte den Staub vom unteren Ende eines frisch hergestellten Seelenstempels. » Ihr lernt schnell.«
» Ich werde ja auch jeden Tag sozusagen operiert«, meinte Gaotona. » Es beruhigt mich ein wenig, wenn ich weiß, welche Art von Messer dabei angewendet wird.«
» Die Veränderungen sind nicht …«
» Nicht dauerhaft«, sagte er. » Ja, das sagst du immer wieder.« Er streckte den Arm aus und erwartete ihren nächsten Stempel. » Dennoch macht es mich nachdenklich. Wenn der Körper aufgeschnitten wird, heilt er wieder – aber wenn man es immer wieder an derselben Stelle macht, werden Narben übrig bleiben. Bei der Seele kann es nicht so völlig anders sein.«
» Aber die Seele ist völlig anders«, entgegnete Shai und stempelte seinen Arm.
Er hatte ihr noch immer nicht vergeben, dass sie ShuXens Meisterwerk verbrannt hatte. Sie sah es, wenn er mit ihr sprach. Er war nicht mehr bloß enttäuscht von ihr; er war wütend auf sie.
Doch diese Wut war inzwischen ein wenig abgeklungen, und sie standen wieder in einem erträglichen Arbeitsverhältnis zueinander.
Gaotona hielt den Kopf schräg. » Ich … nun, das ist aber seltsam.«
» Seltsam? In welcher Weise?«, fragte Shai und beobachtete, wie der Sekundenzeiger auf ihrer Taschenuhr weiterrückte.
» Ich erinnere mich daran, wie ich mich selbst ermutigt habe, Kaiser zu werden. Und … ich bin mir nicht gerade wohlgesinnt. Mutter des Lichts, hat er mich wirklich so gesehen?«
Das Siegel hielt siebenundfünfzig Sekunden lang. Das reichte aus. » Ja«, sagte sie, als es schließlich verblasste. » Ich glaube, genau so hat er Euch gesehen.« Sie spürte einen Stich der Erregung. Endlich funktionierte dieses Siegel!
Nun näherte sie sich ihrem Ziel. Sie stand kurz davor, den Kaiser zu verstehen. Wenn sie sich dem Ende eines Projektes näherte – sei es ein Gemälde, eine Seelenfälschung in großem Stil oder eine Skulptur –, kam stets der Augenblick, an dem sie das gesamte Werk sehen konnte, selbst wenn es noch lange nicht vollbracht war. Doch wenn sie es vor ihrem inneren Auge sah, dann war es vollendet; die tatsächliche Fertigstellung hingegen war eine bloße Formalität.
Dieses Projekt war nun beinahe so weit. Die Seele des Kaisers breitete sich vor ihr aus, und nur über
Weitere Kostenlose Bücher