Die Seele des Ozeans (German Edition)
bringst du mir Bücher und Essen? Ich werde mein Leben in einem winzigen Zimmer verbringen. Und was ist, wenn du stirbst? Es dauert nicht mehr lange. Dein Körper ist krank, er hat kein Jahr mehr zu leben. Lässt du mich dann eingeschlossen? Soll ich sterben wie du? Mein Platz ist nicht in diesem Zimmer. Er ist …“
Kjell wandte sich in Richtung des Meeres, das verborgen hinter den Hügeln rauschte. „Er ist dort draußen.“
„Unsinn!“ Angus strebte dem Haus entgegen.
Vielleicht sollte er dieses kleine Ungeheuer wirklich zum Meer bringen. Vielleicht würde der Junge dann endlich verschwinden. Aber wollte er allein sein? Mit Kjell würde er das Letzte verlieren, was ihm von Fiona geblieben war.
„Ich will dich nur beschützen, verstehst du das nicht?“
„Ich kann mich selbst schützen“, antwortete der Junge. „Niemand kann mir wehtun. Er ist da draußen und er ist mächtig. So mächtig, wie ich es bald sein werde.“
In Angus zerriss etwas. Er fuhr herum, schleuderte Kjell mit einem Ruck zu Boden, packte ihn bei den Schultern und zerrte ihn wieder hoch. Der Blick des Jungen blieb starr, selbst als er ihn brutal schüttelte.
„Was bist du?“, schrie er ihn an. „Was zum Teufel bist du? Sag es mir! Warum hast du sie umgebracht? Warum sie?“
Die frostige Ruhe im Gesicht des Jungen brachte ihn um den Verstand. Er ballte seine Faust und schlug mitten hinein, spürte den Schmerz in seinen Knochen und Gelenken, sah den Schmerz in Kjells Augen, als er zurücktaumelte, und fühlte widerwärtige Befriedigung genau dort, wo sonst nur Leere herrschte.
„Du hast deine Mutter getötet. Du hast mein Leben zerstört.“ Nach jedem Satz schlug er erneut zu. Kjell wankte, doch er ging nicht zu Boden. „All die Jahre habe ich dich durchgefüttert, dich beschützt und dir alles gegeben, was du brauchst. Das ist der Dank dafür? Ja, ich sollte dich zum Meer gehen lassen. Es wird dich genauso umbringen, wie es Fiona umgebracht hat. Du solltest aus meinem Leben verschwinden. Du bist alles, was ich hasse.“ Angus packte Kjell erneut am Handgelenk und zerrte ihn hinter sich her. „Aber du bist auch alles, was ich liebe. Ich kann dich nicht gehen lassen. Gott hat mich verflucht.“
„Nein. Du hast dich selbst verflucht. Und du verfluchst mich.“
In Angus’ Hand, die die Finger des Jungen umklammert hielt, begann es zu prickeln. Er spürte Hitze. Stark, aber noch nicht unangenehm. Es war die Magie, von der Kjell vorhin gesprochen hatte.
Und er ist mächtig. So mächtig, wie ich es bald sein werde.
Außer sich vor Angst begann er zu rennen. Der Junge, noch benommen von den Schlägen, ging mehrmals zu Boden, bis es Angus zu viel wurde und er ihn auf seine Arme hob. Klingen bohrten sich in sein Herz, als Kjells Arme sich Schutz suchend um ihn schlangen.
Oh Gott, was war er nur für ein Monster!
Tränen liefen wie Sturzbäche über seine Wangen. „Es tut mir so leid. Hör nicht hin, wenn ich so etwas zu dir sage. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Gott, bitte verzeih mir.“
Kjell schmiegte sich an ihn. So leicht und zart lag der Junge in seinen Armen, dass ihm der Gedanke, ihn geschlagen und angebrüllt zu haben, plötzlich unerträglich war.
Besser, er brachte ihn zum Meer. Besser, er ließ ihn frei.
Doch Angus sah sich selbst dabei zu, wie er die Haustür öffnete, sie wieder hinter sich zuschlug, Kjell in sein Zimmer brachte und dort einschloss. Anschließend ging er wieder hinunter, verriegelte alle Schlösser an der Tür, nahm Schinken, Käse und Brot aus dem Schrank und schnitt alles in mundgerechte Stücke, um sie liebevoll auf einem Tablett zu drapieren. Dazu tat er einen Apfel und ein Glas Milch und brachte es zu seinem Sohn.
Der Junge saß auf der Fensterbank, so verletzlich in seinem großen Hemd. Er hatte die Stirn an die Scheibe gelehnt und strich mit den Fingern über die glatte Fläche, als könne er durch die geschlossenen Fensterläden hindurch auf das Meer blicken. Seine Wangen waren tränennass. Lautlose Schluchzer schüttelten seinen Körper.
„Hast du Hunger?“
Keine Antwort. Angus stellte das Tablett ab, ging zu Kjell hinüber und strich ihm über das Haar.
„Du willst weg von mir, nicht wahr?“
Die Worte schnürten ihm die Luft ab. Er wusste nicht, was schlimmer war. Ihr Echo auf seiner Zunge oder das Schweigen, das ihnen folgte.
„Ich kann dich nicht gehen lassen.“ Wieder strich er Kjell über das Haar. Es war, als sei der Junge versteinert. Seine Hand ruhte
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