Die Seele des Ozeans (German Edition)
Ihr Herz schien vom Gehirn abgekapselt zu sein, ihre Körperchemie spielte verrückt.
Möglicherweise lagen all jene, die Liebe als eine Krankheit bezeichneten, gar nicht so falsch. Sie fühlte sich krank. Als wäre irgendetwas aus ihr herausgerissen worden.
Liebe? Herausgerissen? Himmelherrgott, ich dramatisiere!
Alexander entfachte das Feuer im Kamin. Er und Henry setzten sich in die Sessel, schlugen die Beine übereinander und verschränkten die Arme vor der Brust. Synchron wie zwei gleichgeschaltete Körper. Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit empfand sie das Gefühl, Alexander sei ihr fremd geworden. Sie gingen seit jeher verschiedene Wege, aber bisher waren diese Wege immer parallel und dicht nebeneinander verlaufen. Jetzt begannen sie sich zu trennen.
„Dramaqueen“, murmelte Fae, zog ihre Decke bis zur Nase hoch und versuchte, abzuschalten. Ukulele begann mit sanfter Stimme vorzulesen:
„Vor langer Zeit lebte nahe der Küste ein Müller, dessen Wehr bereits zweimal vom wilden Fluss zerstört worden war. Ein drittes Mal wollte er nicht verlieren, also besprach er sich mit einem Baumeister und fragte ihn, was zu tun sei, damit das Wehr den Fluten standhielt.
Der Baumeister erklärte, er müsse einen Menschen mit unschuldiger Seele opfern. Nur dessen Reinheit sei stärker als alle Mächte der Natur. ‚Kauft heimlich ein Kind, das noch an der Mutterbrust trinkt‘, riet ihm der gewissenlose Mann. ‚Vermauert es lebend, und euer Wehr wird unzerstörbar sein!‘
Lange sträubte sich der Müller gegen diesen schrecklichen Plan, doch er brauchte ein neues Wehr, denn seine Familie wollte ernährt werden. Schließlich schob er alle Bedenken beiseite und begann, nach einem passenden Opfer zu suchen. Schnell wurde er fündig, denn die Zeiten waren schlecht und viele Menschen litten Hunger. Er fand eine junge Mutter, die nicht wusste, wie sie ihr neugeborenes Kind ernähren sollte. Er kaufte ihr den Säugling ab und übergab das Kind dem Baumeister, der das wimmernde Mädchen unter dunklen Beschwörungsformeln einmauerte. Niemand erfuhr je von der schrecklichen Tat, und tatsächlich war das neue Wehr, gebaut auf dem toten Kind, durch keine Macht zu zerstören. Fluten und Unwetter kamen, doch das Mauerwerk hielt stand.
So vergingen zwanzig Jahre. Der Müller hatte sein Auskommen, seine Familie wuchs und gedieh. Doch Nacht für Nacht glaubte er, das Wimmern des neugeborenen Mädchens zu hören, dessen Knochen unter seinem Wehr lagen.
Eines Tages kam die Frau, die seinerzeit ihr Kind verkauft hatte, in die Nähe der Mühle. Sogleich begann das Wasser des Flusses zu brodeln und zu schäumen. Es riss das Wehr mit sich fort, unterspülte die Mühle und zerstörte sie. Der Müller und seine Familie fanden einen kalten, nassen Tod. Auch die Mutter, die ihr Kind geopfert hatte, wurde von den Wellen mitgerissen. Und während alles unter furchtbarem Getöse fortgespült wurde, tauchte aus den Fluten eine wunderschöne Nixe auf. Während ihres letzten Atemzuges erkannte die Mutter ihr Mädchen wieder, obwohl es inzwischen zu einer herrlichen Jungfrau mit langem, wallendem Haar herangewachsen war und statt ihrer Beine einen prächtigen Fischschwanz besaß. Tage später fanden zwei Jungen aus dem Dorf die Mutter tot im Schilf des Flusses. In ihren Armen lag ein kleines, bleiches Skelett. Man begrub beide am Flussufer unter einer alten Trauerweide, und bis heute, so erzählt man sich, erklingt nachts die liebliche Stimme der Mutter, die ihr Kind in den Schlaf singt.“
Ukulele warf das Buch mit einem entrüsteten Stöhnen auf den Tisch. „Eine Geschichte ist deprimierender als die andere. Auf den Scheiterhaufen mit diesem Ding.“
Fae gähnte. Langsam teilte sie den Pelz des Katers mit ihren Fingern und malte sich aus, es sei Kjells Haar.
„Ich finde sie nicht deprimierend“, nuschelte sie. „Es ist alles gut geendet.“
„Gut geendet?“ Alexander schnaubte. „Alle sind tot. Die Mutter, ihr Kind, der Fischer und seine Familie.“
Fae zuckte mit den Schultern. Ihr war, als läge noch immer Kjells Geschmack auf ihrer Zunge. „Das wird man früh genug auch von uns sagen. Wir sind alle Staub im Wind.“
„Sokrates?“, überlegte Henry. „Chrysippos? Demokrit? Platon?“
„Pilates?“ Ukulele rieb sich mit zwei Fingern das Kinn.
„Hör auf mit diesem Gerede, Fae.“ Ihr Bruder spielte eine Spur zu hektisch mit einer seiner Dreadlocks und blickte zum Fenster hinüber, hinter dem eine funkelnde Wand aus
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