Die Seele des Ozeans
Sie sah sie weinen, als sie Kjells Körper entdeckten. Ausgeblutet und leer, ohne Herz. Und sie sah, wie das mondbeschienene Meer in einem einzigen Atemzug explodierte. Es spuckte ein Monster aus, riesenhaft und unbegreiflich. Aus dem gigantischen Maul ringelten sich Tentakel, die nach den Männern schlugen. Henry prallte mit schrecklicher Wucht gegen einen Felsen, Alexander landete bäuchlings im Sand. Noch im Fallen schoss er auf das Ungeheuer. Ein Tentakel traf ihn am Arm und schleuderte die Waffe beiseite, ein anderer schob ihn noch weiter von Kjell weg. Der dritte, der aus dem Maul des Ungeheuers schoss, holte wie eine Peitsche aus und zerschlug Henrys Brustkorb.
Das ist nicht wahr! Sag, dass es nicht wahr ist!
Ukulele kniete japsend im Sand. Alexander kroch auf allen Vieren zu seiner Waffe hinüber, hob sie auf und schoss alle Kugeln auf das Monster ab, ohne dass es etwas bewirkte. Es war zu spät. Die Tentakel griffen nach Kjells Körper, umschlangen ihn und zogen ihn zu dem geifernden Maul. Und dann, als das Ungeheuer sich in all seiner Abscheulichkeit herumwarf, um zurück ins Wasser zu gleiten, wusste Fae, dass sie nie wieder bei klarem Verstand sein würde.
Der schuppige, weißglänzende Drachenkörper peitschte das Wasser, als das Tier mit der Plumpheit eines riesenhaften Seeelefanten vorwärtsrobbte. Erst weit draußen wurde das Meer tief genug, um seinen gewaltigen Körper zu verschlucken. Fae versank in pulsierender Schwärze, und als sie wieder zu sich kam, war der helle Sand voller Blut.
Kjells Blut. Henrys Blut, das in Rinnsalen vom Felsen floss.
So viel. Mehr als sie je erblickt hatte.
Und dort lag das Messer, die scharfe Klinge rot glänzend.
Warum hatte der Alte es zurückgelassen. War er entkommen?
Seltsamerweise wusste sie die Antwort. Ja, er war fort.
Fae kroch zu dem triefenden Sand, wo Kjell gerade noch gelegen hatte. Sie spürte keine Wärme mehr, als sie ihre Finger hineingrub, nur feuchte Kälte. Nein! Nein! Nein!
Wach auf! Wach doch endlich auf!
Sie kniff sich in den Arm. So fest, dass es blutete.
Nichts geschah.
Alexander und Ukulele knieten über Henrys leblosem Körper. Unmöglich, dass er den Angriff überlebt hatte. Sein Hinterkopf war zerschmettert, sein Brustkorb vom Schlag des Tentakels schrecklich eingedrückt. Alexander hob den Blick, stand auf und kam zu ihr herübergewankt.
„Es tut mir so leid“, flüsterte Fae, als er sie in den Arm nahm.
Dann verlor sie endgültig das Bewusstsein. Die Schwärze, in der sie schwebte, schien endlos zu dauern. Ganze Menschenleben lang. Sie sah Schemen, die vorüberzogen. Ein Krankenhaus, Ärzte, Alexanders und Ukuleles blasse Gesichter. Eine Beerdigung, während der ihr Geist kaum begriff, dass Henry ebenso wie Kjell verloren war.
Die Rückkehr in das Strandhaus.
Nur wenige Tage später verschwand auch Rembrandt, der letzte Trost, der ihr geblieben war. Fae stellte eine Schale voller Thunfisch auf die Terrasse, sah täglich im Keller nach und rief ungezählte Male seinen Namen, aber der Kater blieb verschwunden.
An dem Morgen, an dem Ukulele im Unterhemd nach Hause kam, in den Armen ein in seinen Pullover eingewickeltes Bündel, wusste Fae, dass auch Rembrandt sie verlassen hatte.
„Angus’ Haus“, sagte der Hawaiianer, holte eine Schaufel und verschwand zwischen den Dünen.
Angus’ Haus …
Auch dort hatte Fae nachgesehen, aber ihre Sinne waren vor Schmerz betäubt und verwaschen und taugten zu nichts mehr. Tage voller Übelkeit und Einsamkeit glitten wie ein zäher Fluss an ihr vorüber, die sie spürte, als empfände sie ein anderer. Nachts lag sie wach und starrte bis zum Morgengrauen auf die Perlen an ihrem Handgelenk oder auf die Kissen, auf denen noch immer Rembrands weiße Haare hafteten.
„Ich will nicht, dass du … was ist, wenn …“
Er packte ihren Kopf mit beiden Händen, beugte sich vor und erstickte ihren Protest in einem Kuss.
Fae keuchte auf.
Binnen eines Atemzuges rückte alles in weite Ferne. Sie spürte und schmeckte nur noch den Kuss, die salzige Weichheit seiner Lippen, die Hitze. Ihre Hände gruben sich in sein nasses Haar, während er sich mit ihr in den Armen langsam drehte – und abtauchte.
Irgendwann, als sie bereits glaubte tot zu sein, drangen Worte zu ihr vor. Alexander hatte sie erneut in ein Krankenhaus gebracht. Warum, wusste sie nicht mehr. Ein Arzt saß neben ihr, hatte seine Hand auf ihre Schulter gelegt und redete mit sanfter Stimme auf sie ein: „Hörst du mich, Fae?
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