Die Seelen im Feuer: Historischer Roman (German Edition)
nicht vorher der Großvater das sauer Ersparte entdeckte und versoff.
Auch Mariele musste schon mithelfen. Sie schnitt die ausgefransten Ränder der Flicken glatt ab und flocht dünne Lederstreifen zu Haarbändern oder schmalen Gürteln. Und der Alte stach mit einer dünnen Ahle die Löcher vor, damit sich seine Tochter mit dem Nähen leichter tat. Ihre Hände waren von der scharfen Gerberpisse ohnehin ständig wund.
Unter der Sitzbank scharrte und gackerte es leise: Dort war der Käfig für die beiden mageren Hühner, die die Familie mit Eiern versorgten. Damit das Federvieh gesund blieb, hatte der alte Reuß eine gedörrte Kröte ganz oben in die Stubenecke gehängt. Das half nicht nur gegen den bösen Blick, sondern verhinderte auch das Verhexen von Tieren. Die Hühner waren jedenfalls frisch und munter und legten fleißig.
Draußen pfiff der Novemberwind durch die nächtlichen Gassen, ein unheimliches, klagendes Heulen, das an- und abschwoll. Mächtig fuhren die Böen in die engen Hofreiten der Häuser und zerrten am kahlen Geäst der Ulme im Apothekersgarten.
»Hört ihr’s?« Der alte Reuß stand schwerfällig auf und vergewisserte sich, dass die beiden einzigen Fenster des Raumes auch gut verschlossen waren. »Das ist die wilde Jagd! Sie fahren aus, die Unholden, und suchen nach Opfern für ihr Teufelswerk! Weh dem, der heut Nacht vor die Tür geht!«
Mariele schauderte. Da draußen flogen sie umher, die bösen Druden und Zauberer, auf Besen, Ziegenböcken und Ofengabeln. Vorher kochten sie Schmier aus toten Kindern und rieben sich damit ein, damit sie sich in die Lüfte erheben konnten. Und dann rauschten sie davon, zum Hexentanz oder zum Wetterbrauen oder zum Läusemachen. Es machte einem Angst.
»Großvater, ich fürcht mich.« Marieles Stimme war ganz dünn. »Können uns die Unholden hier drin was tun?«
»Solang die Mistel da drüben im Herrgottswinkel hängt, sind wir sicher«, keckerte Reuß mit seiner hohen Altmännerstimme. »Ich hab sie am sechsten Tag nach Neumond von einer Eiche geschnitten, das ist die stärkste Abwehr, die ich kenne. Hexen können den Geruch der Mistel nicht ertragen.«
Mariele atmete auf. Gott sei Dank kannte sich der Großvater so gut aus. Erst gestern hatte er das Haus mit neun geweihten Kräutern ausgeräuchert, um alles Böse auszutreiben und Hexenwerk fernzuhalten. Das hatte so gut gerochen.
»Großvater, sprich noch einmal den Neunkräutersegen«, bat sie.
»Na, schaden kann’s nicht«, meinte Reuß. »Und lernen sollst du ihn auch, damit du ihn hersagen kannst, wenn ich einmal nicht mehr bin. Also horch gut zu!« Der Alte hob die Hände wie zum Gebet. »Nun haben diese neun Kräuter Macht gegen neun böse Geister, gegen neun Gifte und gegen neun ansteckende Krankheiten. Gegen das rote Gift, gegen das stinkende Gift, gegen das weiße Gift, gegen das wütende Gift, gegen das gelbe Gift, gegen das grüne Gift, gegen das braune Gift, gegen das blaue Gift. Gegen Wurmblattern, gegen Wasserblattern, gegen Dornblattern, gegen Distelblattern, gegen Eisblattern, gegen Giftblattern. Gegen den Starrkrampf, gegen den Kopfkrampf, gegen die Auszehrung, gegen den Stickhusten. Wenn irgendein Zauber kommt von Osten geflogen oder einer von Norden, oder irgendeiner von Westen oder Süden über die Leut. Beifuß, hilf, Raute hilf, Siegwurz hilf, Pimpernell hilf, Teufelswurz hilf, Arnika hilf. Doste, Hartheu, weiße Heid, tut dem Teufel vieles leid!«
In diesem Augenblick schlug draußen eine Tür zu oder ein Fensterladen, schnelle Schritte ertönten, etwas fiel klappernd um. Marieles Mutter fuhr hoch und steckte schnell ihren Zeigefinger in den Mund. Sie hatte sich vor Schreck gestochen. »Was war das?«
Der Alte kniff die Augen zusammen, seine Brauen lagen über der Stirn wie zwei haarige Raupen. »Da hab ich den Segen ja grad noch rechtzeitig gesprochen«, murmelte er finster. »Das war eine Drud, die hat sich davongemacht. Hexenpack.«
Er zog die beinerne Flöte aus der Innentasche seines schmutzigen Hemdes und spielte eine kleine volkstümliche Weise. Hexen hassten schöne Melodien, ihre Musik war garstig, wild und schrill. Bei den Hexentänzen spielten die Pfeifer deshalb alle Lieder rückwärts.
Nach einer Weile legte die Reußin plötzlich Nadel und Lederflicken weg und drückte die Hand auf den Magen.
»Hast schon wieder Schmerzen, Mama?« Mariele war besorgt. Schon seit einiger Zeit war ihre Mutter kränklich.
Die Reußin nickte. »Es sticht und brennt wie die
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