Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)
Tag als Höchsttemperatur 29 Grad an. Nach
der schlaflosen Nacht hatte Lukas sich im Morgengrauen erhoben, geduscht und
angezogen. Er joggte nicht mehr seit jenem Morgen, als er über Rabeas roten
Pumps gestolpert war; es kam ihm vor, als wäre dies in einem anderen Leben gewesen.
Um
halb sieben brachen er und die kleine Stellina auf, um Rabeas letzten Wunsch zu
erfüllen: Nach Urnäsch zu fahren und somit ihren rätselhaften Abschiedsworten
nachzugehen.
Lucie,
in sein Vorhaben eingeweiht, hatte ihm einen Reiseführer aufgenötigt. Demnach
sollte man in Urnäsch vor allen Dingen den Säntis besteigen, den zweithöchsten
Berg der Schweiz, der keine Herausforderung selbst für einen ungeübten
Bergsteiger darstellte. Deshalb trug er bequeme Jeans und festes Schuhwerk.
Stellina thronte in erwartungsfroher Haltung auf dem Beifahrersitz und genoss ganz
offensichtlich den Ausflug. Nach drei Stunden hatten sie Urnäsch erreicht. Die
Hauptstraße wurde von wunderschönen, mit bunten Geranien geschmückten
Bauernhäusern gesäumt, der ganze Ort vermittelte einen einladenden Eindruck. In
der Ortsmitte entdeckte er ein Hotel mit einer großen Terrasse, auf der einige
Gäste ihr Frühstück unter der warmen Morgensonne genossen. Von der Terrasse aus
konnte man den Marktplatz und die Hauptstraße gut überblicken, und einem Impuls
nachgebend, beschloss Lukas, dort einen Kaffee zu trinken. Er steuerte seinen
Wagen auf den Parkplatz und stieg aus. Stellina verfolgte in Vorfreude auf
einen Spaziergang jede seiner Bewegungen. Er öffnete die Beifahrertüre und
aufgeregt sprang sie heraus. Lukas hatte bereits in den vergangenen Tagen
bemerkt, wie gerne der kleine Hund in der freien Natur war. Offenbar war die
alte Gräfin in der Stadt immer nur kurz und stets die gleiche Strecke mit dem
Hund gelaufen, was den natürlichen Bewegungsdrang des noch jungen Tieres stark
eingeschränkt haben musste. So ging er erst einmal eine halbe Stunde mit der
munter herumschnüffelnden Stellina spazieren, bevor er sich auf der Terrasse
niederließ. Da sie ihm bisher aufs Wort gefolgt war, löste er die Leine.
Sogleich biederte sich Stellina bei der älteren Bedienung an, aus deren Schürze
köstliche Küchendüfte aufstiegen, und wurde dafür mit einer Schüssel Wasser und
einem kleinen Kalbsknochen belohnt. Ihr listiges Treiben entlockte Lukas das
erste Lächeln seit Rabeas Tod. Das Tierchen hielt den Knochen zwischen den
beiden Vorderpfoten eingeklemmt und bearbeitete ihn hingebungsvoll. Doch
plötzlich ließ Stellina ihn fahren, ihre ganze Aufmerksamkeit galt nun der
gegenüberliegenden Straßenseite. Lukas sah hinüber und entdeckte eine Gruppe
von Vorschulkindern, die sich alle an der Hand hielten, vorne und hinten von je
einer erwachsenen Begleitperson geführt. Der Gruppe voraus lief ein kleiner
Hund, der Stellina zum Verwechseln ähnlich sah. Ohne Vorwarnung sprang sie auf
und bevor Lukas erkannte, was sie vorhatte, lief sie bereits über die
Hauptstraße. Lukas blieb beinahe das Herz stehen, als er hörte, wie ein Auto
scharf bremste. Er sprang auf, eilte ihr hinterher und bekam sie glücklich auf
der anderen Straßenseite am Halsband zu fassen. Während er Stellina
gleichzeitig anleinte, beschimpfte und vor Erleichterung streichelte, da ihr
nichts passiert war, vernahm er eine kleine Jungenstimme, die ihm in bemühtem
Hochdeutsch, gemischt mit drolligen Schwyzerdütsch belehrte:
„So
lernt er das abe´ nüt. Wenn man einen Hund schimpft, dann darf man ihn nüt
streicheln, sonst wisst er nüt, was er falsch g´macht hät. Hat meine Mama
g´seit.“
Lukas,
der neben Stellina kniete, sah hoch. Ungefähr in Augenhöhe mit ihm stand ein
etwa fünfjähriger strohblonder Junge, die Hände tief in seiner Lederhose
versenkt. Seine Nase lief und er hatte einen passablen Schmutzfleck auf der
Wange. Hinter ihm tuschelten die Kinder aufgeregt und zeigten kichernd auf die
Hunde, deren Bekanntschaft in eine neue Phase eingetreten war. Stellinas
beinahe Ebenbild versuchte soeben, von hinten auf sie zu klettern, damit klar
aufzeigend, wessen Geschlechts er war. Lukas stand auf und zog Stellina
energisch zu sich heran und, weil dies nichts nützte, nahm er sie auf den Arm.
Daraufhin sprang das männliche Pendant aufgeregt an seinem Bein hoch und
versuchte, direkt mit diesem zu kopulieren. Peinlich berührt und unter dem
schallenden Gelächter der Kinder versuchte Lukas, den Hund abzuschütteln, ohne
ihm dabei weh zu tun. Stellina zappelte heftig auf
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