Die Seelenfischer (Seelenfischer-Trilogie) (German Edition)
Unternehmens war der blaue
Lieferwagen an diesem frühen Morgen unterwegs. Sein Ziel war eine imposante
Patriziervilla aus dem 17. Jahrhundert auf einem parkähnlichen Grundstück im
Nürnberger Stadtteil Lauf am Holt.
Dunstiger Nebel schwebte über dem sattgrünen Rasen und schlanke Zypressen
säumten die Anfahrtsallee bis zum Haupthaus. Die Villa selbst war im
klassizistischen Stil erbaut. Durch das mittig platzierte Eingangsportal und die
symmetrisch angeordneten hohen Fenster vermittelte das Haus den Eindruck vollendeter
Harmonie. Die vordere Fassade wurde malerisch von Kletterrosen und blassrosa Glyzinien
umrankt. Um das gesamte Grundstück verlief eine Backsteinmauer, nur unterbrochen
durch das schmiedeeiserne Tor. Weder an der Klingel noch am Briefkasten befand
sich ein Namensschild. Man wusste, wer hier wohnte. Der Wagen mit der
Aufschrift Heizungsbau Fugga hielt vor dem Tor und der Fahrer, ein kräftiger
Brillenträger in einem blauen Arbeitskittel, streckte den Arm aus dem Fenster und
läutete.
Aus der Gegensprechanlage antwortete ihm eine ältliche
Frauenstimme: „Ja, bitte?“
„Hier ist
Heizungsbau Fugga.“
Mit einem leisen Summen schwang das große Tor zur Seite, der Wagen
rollte die Auffahrt entlang und hielt direkt vor dem Haus. Der Fahrer und sein
jüngerer Beifahrer stiegen aus und hoben jeder einen schweren Werkzeugkoffer
aus dem Lieferwagen.
Eine wohlbeleibte Dame mit einem grauen Dutt, gekleidet in ein
schwarzes Kleid mit weißer Schürze, erwartete sie bereits. „Guten Morgen, ich
bin Frau Gabler, die Haushälterin der Familie von Stetten. Kommen Sie herein.
Ich zeige Ihnen, wo Sie anfangen können.“
Die beiden Handwerker, Vater und Sohn Fugga, folgten ihr in die Eingangshalle,
die mit antiken schwarz-weißen Terrazzofliesen ausgelegt war. Rechts und links von
der Halle führte eine Rundtreppe mit kunstvoll geschnitztem Eichengeländer in
den ersten Stock und vereinte sich oben in einer Galerie. Kostbare Gemälde säumten
die Wände auf beiden Seiten. Links von ihnen gab eine doppelflügelige Tür den
Blick in eine holzgetäfelte Bibliothek frei. Frau Gabler, die wusste, wie
beeindruckend die Eingangshalle auf jeden erstmaligen Besucher wirkte, hatte den
Handwerkern die nötige Zeit gegeben, das Haus ihrer Herrschaft gebührend auf
sich wirken zu lassen. Nun führte sie die beiden zielstrebig in die Bibliothek.
„Hier fangen Sie bitte an.“
„Äh, Frau Gabler, entschuldigen Sie bitte“, meldete sich Fugga der
Ältere zu Wort. „Herr von Stetten hat uns lediglich beauftragt, die
Heizungsrohre in den Bädern und in den Schlafzimmern auszutauschen. Von der
Bibliothek ist in unserem Gespräch und bei der gemeinsamen Begehung nie die
Rede gewesen.“
„Das geht schon in Ordnung. Frau von Stetten möchte, dass die
Heizungsrohre im gesamten Haus erneuert werden und wünscht, dass Sie heute gleich
mit der Bibliothek beginnen. Ich hab in der Küche zu tun. Wenn Sie etwas
brauchen“, sie zeigte auf einen eierschalenfarbenen Telefonapparat, der innen neben
der Bibliothekstür angebracht war, „Hier ist das Haustelefon. Wählen Sie einfach
die Nummer 2. Meine Herren." Sie nickte ihnen zu und überließ die beiden
Fuggas ihrem Schicksal.
Der Hausherr, Heinrich von Stetten, hatte in der Tat nur die mit
der Heizungsbaufirma Fugga ursprünglich vereinbarten Arbeiten durchführen
lassen wollen, aber die Hausherrin, Frau von Stetten hatte beschlossen, die
einmalige Gelegenheit seiner längeren Geschäftsreise zu nutzen, um die gesamte
Anlage zu modernisieren. Frau Gabler, als langjährige Haushälterin der Familie
bestens vertraut mit dem dominanten Charakter des Hausherrn, wusste, dass es
ein gewaltiges Donnerwetter geben würde, wenn dieser zurückkehrte und die von
ihm nicht genehmigten Neuerungen in der alten Familienvilla entdeckte. Herr von
Stetten liebte keine Alleingänge, schon gar nicht, wenn es um seinen Augapfel,
die Bibliothek ging.
Davon ahnten die beiden Fuggas natürlich nichts. Sie stellten ihre
schweren Koffer ab und sahen sich gründlich in der Bibliothek um, deren Wände
und Decke mit Kassetten aus kostbarem Mahagoni ausgekleidet waren. Der Raum war
circa acht Meter lang, fünf Meter tief und beinahe genauso hoch. Kostbare,
ledergebundene Folianten standen in prall gefüllten Regalen, die die Wände
ringsum bis unter die Decke säumten. Eine Wendeltreppe aus geschmiedetem Eisen
führte auf die rundherum verlaufende Galerie, die nur auf der Fensterseite von
zwei hohen
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