Die Seelenjägerin - 1
bewusst machten, dass das Morgen nicht besser werden konnte, wenn man das Heute nicht überlebte.
Sie würde nie wieder dulden, dass ein Mann sie auf diese Weise berührte.
Sie würde nie wieder dulden, dass ein Mensch, ob Mann oder Frau, sich bereicherte, indem er ihre Würde verkaufte.
Und wer das nicht glauben wollte, mochte zur Hölle fahren.
Auf dem Stadtberg waren die Straßen mit Steinen gepflastert, nicht weil es nötig gewesen wäre – im Gegensatz zum übrigen Gansang lag dieser Stadtteil hoch genug über dem Wasserspiegel –, sondern weil man sich von den schlammigen Straßen und den verschimmelten Holzstegen der ärmeren Viertel abheben wollte. Sogar die Luft schien Kamala hier oben reiner zu sein. Und trockener. Viele Türme ragten in den Himmel, man baute auf dem Stadtberg eher in die Höhe als in die Breite, um aus den sündhaft teuren kleinen Grundstücken möglichst viel herauszuholen. Die Türme waren untereinander durch schmale Brücken verbunden, sodass kein Patrizier, der einen Standesgenossen besuchen wollte, einen Fuß auf die Erde zu setzen brauchte. In Hunderten von Fenstern flatterten Seidengardinen wie bunte Vögel. Die untersten Stockwerke der Türme hatte man den Händlern überlassen, hier reihte sich Laden an Laden mit Schmuck, feinem Lederzeug, blanken Messern und zahllosen Ballen spinnwebfeiner Seide. Kamala wäre nur allzu gern stehen geblieben, um sich alles anzusehen, mit den Fingern über die Schätze der Reichen und Mächtigen zu streichen, sie aufzunehmen mit allen Sinnen, doch dafür hatte der Diener keine Zeit. Für ihn war das alles nichts Besonderes, er hatte Wichtigeres zu tun, und wenn sie den Waren allzu viel Aufmerksamkeit widmete, verriete sie womöglich mehr über ihre Herkunft, als ihr lieb sein konnte.
Mit ein klein wenig Macht kannst du alles haben, was du willst. Du kannst dir aussuchen, ob du mit Falschgeld bezahlst oder es dir einfach nimmst. Aber erst später, wenn du die Muße dazu hast.
Ihr Führer brachte sie zu einem grauen Steinturm mit einem schweren Eichentor, auf dem ein Wappen prangte. Das Tor wurde von innen geöffnet, bevor sie anklopfen konnten. Die Diener schienen zu wissen, wer Kamala war – oder zumindest, dass ein wichtiger Gast erwartet wurde – und schlugen die Augen nieder, als sie eintrat, sodass ihr fast entgangen wäre, wie sie mit verächtlichem Blick ihre schäbige Kleidung streiften.
Drinnen war es sauber. Sehr sauber. Im »Viertel« konnte man kein Haus so rein halten, auch wenn man sich die größte Mühe gab, man scheiterte bereits am Schimmel. Die Steinmauern waren makellos weiß getüncht, und das Treppenhaus hatte große Fenster, die das Sonnenlicht einließen. Kamala sah, dass nirgendwo Staub lag, und hörte, wie die Diener hinter ihr eilends den Schmutz auffegten, den sie auf den Stufen hinterlassen hatte, bevor ihn ihr Herr bemerkte. Vermutlich war er ein grausamer Mann, und die Diener mussten befürchten, mit dem kleinsten Schmutzfleck sein Missfallen zu erregen. Oder er fand jede Art von Unordnung so unerträglich, dass er nicht anders konnte, als seine gesamte Umgebung ständig zu kontrollieren. Vielleicht auch beides.
Er erwartete sie in einem Raum, der größer war als das ganze Haus, in dem sie zur Welt gekommen war, und dabei – welch eine Verschwendung! – fast völlig leer. Nur ganz hinten stand vor der Feuerstelle ein prächtiger Tisch mit reich geschnitzten Stühlen. Ihr Eintreten wurde mit einem höflichen, aber keineswegs unterwürfigen Nicken zur Kenntnis genommen. Sie hob den Kopf … Im oberen Drittel waren die Wände mit ganz außergewöhnlichen Fresken bemalt. Jede Wand zeigte eine andere Szene aus einem historischen Mythos – die Geburt der Jägerin, die Vernichtung der Seelenfresser, die Gründung von Gansang – mit lebensgroßen und erschreckend echt wirkenden Figuren. Doch außergewöhnlich wurden die Bilder erst dadurch, dass der Mann, der vor ihr stand, nicht als Beteiligter, sondern als abseits stehender Beobachter in jede einzelne Szene mit aufgenommen war. Sein Abbild interessierte sich wenig für das Geschehen, sondern war im Stil der klassischen Porträtmalerei dem Betrachter zugewandt, sodass selbst die dramatischsten Phasen der menschlichen Geschichte nur die Kulisse für ihn waren. Göttinnen wurden geboren, Seelenfresser starben, aber er zog alle Blicke auf sich.
Eine derart kostspielige Selbstverherrlichung in so großem Stil hatte sie noch nie erlebt.
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