Die Seelenjägerin
scharf.
»Was ist das?«, fragte sie.
Seine Stimme war hart wie Stahl. »Die Alten nannten sie die Seelenfresser. Seit den Finsteren Zeiten hat sie kein Mensch mehr gesehen. In den Mythen heißt es, sie hätten die Macht, ihre Beute in Trance zu versetzen.«
Das Wesen stieg immer höher und steuerte unverkennbar auf den Palast zu. Das war schlecht. Das war sogar sehr schlecht.
»Wir müssen es aufhalten«, flüsterte Andovan heiser.
»Wie?«
Er presste die Lippen zusammen und schüttelte hilflos den Kopf. »Im Norden gibt es Krieger, die über solche Dinge Bescheid wissen, aber ich glaube nicht, dass jemand hier im Reich über die entsprechenden Kenntnisse verfügt. Falls sie nach zehn Jahrhunderten überhaupt noch Gültigkeit haben.«
Dann sah er ihr in die Augen.
»Es sind Tiere«, sagte er ruhig. »Sie atmen, sie bluten und sie können sterben.«
Sie spürte die unausgesprochene Frage, und ihr Herzschlag stockte.
Wieder war von draußen das Kreischen der Riesenbestie zu hören. Ein Schrei voll irrer Wut. Was immer das Ungeheuer vorhatte – wenn es den Palast erreichte, würde Blut fließen, so viel stand fest.
»Du gehörst nicht zu meinem Volk«, sagte Andovan zu ihr. »Ich habe kein Recht, dich zu bitten, deine Lebensenergie zu vergeuden. Schon gar nicht im Dienste alter Mythen.«
»Du willst, dass ich es töte«, flüsterte sie. Schon der Gedanke ließ sie innerlich erbeben.
»Könntest du das denn? Ist es überhaupt möglich?«
Wieder sah sie aus dem Fenster. Seit sie wusste, wie die Macht dieser Kreatur beschaffen war, konnte sie sich dagegen wehren, nur durch den Anblick in ihren Bann gezogen zu werden, aber das war anstrengend. Ihre Zauberkräfte auf das Ding zu richten, wäre noch schwieriger und würde die Gefahr der Verzückung noch hundertmal größer machen. Und von hier aus konnte sie ohnehin nicht tätig werden. Das kam nicht in Frage. Das Wesen würde gleich den Blicken entschwinden, und sie könnte zwar durch den ganzen Palast laufen und es durch ein Fenster nach dem anderen verfolgen, aber das wäre der Bündelung ihrer Zauberkräfte nicht gerade förderlich.
Außerdem gab es natürlich …
Einen naheliegenden Einwand.
Sie brauchte keine Magie, um die Gefühle des Seelenfressers zu ergründen. Ihre Gabe des Zweiten Gesichts zeigte ihr die spirituelle Aura nur allzu deutlich. Die Bestie war außer sich vor Schmerz und Zorn und in ihrem Blutdurst so rasend, dass alle anderen Empfindungen einfach ausgelöscht wurden. In diesem Zustand war jedes Tier am gefährlichsten.
Jedes Tier und jeder Mensch , dachte sie.
Andovan wartete auf ihre Antwort. Sie sah ihm in die Augen, wog all die Lügen ab, die sie ihm sagen, all die Halbwahrheiten, mit denen sie ihn täuschen und ihr Geheimnis wahren könnte … und verwarf sie. Dieser Mann hatte Besseres verdient. Selbst wenn sie dazu das Magistergesetz brechen müsste.
»Wenn ich das tue«, sagte sie ihm, »wirst du sterben.«
Darauf war er sichtlich nicht gefasst. Er öffnete den Mund, als wollte er eine Frage stellen, brachte aber keinen Ton heraus. Er starrte sie nur entgeistert an.
Und dann glomm in seinen Augen so etwas wie Verständnis auf. Vielleicht ergab er sich auch nur in sein Schicksal.
»In meinen Adern fließt das Blut der Protektoren«, sagte er ruhig. Und stolz. »Wenn ich mein Schwert erheben und mich auf dieses Wesen stürzen könnte, ich würde nicht zögern, auch wenn ich wüsste, dass es mein sicherer Tod wäre.« Er nahm ihr Gesicht in seine beiden Hände; in seinen Augen stand eine ungewohnte Zärtlichkeit. »Tu es für mich, Lianna.«
Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten, und drängte sie mit verbissenem Stolz zurück. Ich habe immer gewusst, dass er sterben muss, und zwar von meiner Hand. Warum stört es mich jetzt?
Er küsste sie. Sie schloss die Augen. Für einen bittersüßen Moment stieg ihr wieder der Duft nach Safran und Kassiarinde in die Nase, und sie hörte über sich das Plätschern des warmen Gebirgsregens. Dann verflüchtigte sich die Erinnerung, nur der Seelenfresser schrie seine Kampfansage in den Himmel, und vor ihr stand die Quelle ihrer Macht.
»Geh«, sagte er.
Und sie gehorchte. Sie entzog seiner Seele die nötigen Kräfte und verwandelte sich in einen großen Vogel. Als sein Athra entwich, keuchte er auf und taumelte rückwärts gegen die Mauer. Aber sie sah, dass er auf den Beinen blieb. Das war gut. Wahrscheinlich hatte er noch so viel Leben in sich, dass er sie durch den
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