Die Seelenkriegerin - 3
stieg die breite Treppe so selbstverständlich hinauf, als handle es sich lediglich um einen Höflichkeitsbesuch. Doch in seinem Kopf arbeitete es fieberhaft: Macht beschwören, Zauber entwerfen, so viel wie möglich über den Palast und seine Bewohner in Erfahrung bringen. Das Gebäude war offenbar neu und wies nicht die Restenergien von Hexerei auf, wie sie nach einer langen Geschichte von Verteidigungszaubern zurückzubleiben pflegten. Aber es trug eindeutig Sidereas Zeichen, und ihre Macht war nicht zu unterschätzen. Schon gar nicht, seit ihr im Grunde unbegrenzte Mengen von Athra zur Verfügung standen.
Als Colivar oben angekommen war, schnippte einer der Gardisten mit den Fingern. Eine junge Frau trat aus dem Schatten der Tür, nickte ihm zu und forderte ihn mit einer Geste auf, ihr zu folgen. Der Bereich, den sie jetzt betraten, strahlte eine subtile Macht aus, die er jedoch nicht genauer bestimmen konnte, ohne stehen zu bleiben und sich darauf zu konzentrieren. Hoffentlich war es nicht wieder eine Falle wie beim letzten Mal.
Er atmete tief ein und wiederholte für sich alles, was er auch Kamala gesagt hatte: Siderea will mich nicht töten. Wir brauchen sie nur abzulenken. Sorge dafür, dass die Schlacht weitergeht, falls ich doch sterbe. Bei der ungeheuerlichen Unterstellung, er könnte sterben, schlug der Ikati-Geist in seiner Seele jäh mit den Flügeln und wütete gegen die Vorstellung, vor dem Tod zu kapitulieren. Er hatte diesen Geist seit Jahrhunderten nicht so stark gespürt und suchte ihn eilends wieder zu unterdrücken, um klar denken zu können. Er durfte jetzt nicht die Kontrolle verlieren!
Aber du wirst gleich einer Ikati-Königin gegenüberstehen , dachte er. Wirst du auch in ihrer Gegenwart verleugnen können, was du wirklich bist?
Die Dienerin führte ihn in einen leeren Raum und bedeutete ihm zu warten. Es war ein großer Saal, und nur wenige Möbel standen darin: ein paar Bänke, ein schmaler Tisch an einer Wand und mehrere Holzständer mit Waffen. Die hätte er sich gern genauer angesehen, doch wusste er aus Erfahrung, dass es nicht immer ratsam war, in Sidereas Zuhause irgendetwas anzufassen. So trat er nur nahe heran und sah, dass es sich um zahlreiche Schwerter unterschiedlicher Machart und eine Reihe von anderen Blankwaffen handelte. Die sechs Speere in einem der Ständer hatten Bronzespitzen, in die Götterbilder eingeritzt waren, und sie hatten allem Anschein nach schon mehrfach mit Blut Bekanntschaft gemacht. Das waren alles keine Übungswaffen. Er fragte sich, ob sie immer hier gelagert wurden oder ob man sie seinetwegen hergebracht hatte; es reizte ihn, die Spuren im Boden zu lesen, um zu sehen, wie lange sich die Ständer schon in diesem Raum befanden. Aber eine solche Falle hatte ihm Siderea beim letzten Mal gestellt. Er würde nicht so töricht sein, noch einmal darauf hereinzufallen.
»Wie schön, dass du uns besuchen kommst«, sagte eine Männerstimme hinter ihm.
Auf Kannoket.
Er fuhr herum, sein Athra wallte auf. Die Stimme war ihm nicht unbekannt, doch als er ihren Besitzer so plötzlich vor sich sah, war der Schock so groß, dass er ihm den Atem raubte.
Nyuku.
Er war viel sauberer, als Colivar ihn in Erinnerung hatte, ansonsten hatte er sich kaum verändert. Die scharfen Kannoket-Züge im wettergegerbten Gesicht, die harten Falten um die Augen, die gegen die Kälte zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen wurden, Augen so dunkel, dass Pupille und Iris nicht voneinander zu unterscheiden waren, schwarz wie der Nachthimmel über der Arktis. Und natürlich die Rüstung. Schichten von Seelenfresser-Haut zu eng anliegenden Kleidungsstücken modelliert, auf denen kobaltblaue Glanzlichter schillerten wie die Regenbogenfarben auf einer Ölpfütze. Um den Hals trug er eine Kette aus polierten Spänen, die aus den Schwanzplatten von Seelenfressern geschnitten und auf eine Schnur aus Seehunddarm aufgezogen worden waren. Trophäen von besiegten Rivalen vielleicht? Da jeder Span nicht nur das Bild eines toten Seelenfressers heraufbeschwor, sondern auch an einen wahnsinnig gewordenen Konjunkten erinnerte, war diese Kette ein wahrhaft makabres Schmuckstück.
Seit Colivar erfahren hatte, dass Nyuku noch am Leben war, hatte er sich auf diesen Augenblick vorbereitet. Aber es hatte nicht ausgereicht! Nichts hätte dafür ausgereicht. Aus dem schwarzen Abgrund seiner Seele schossen Erinnerungen empor, keine zusammenhängenden Bilder, sondern Wellen wilder Emotion, Szenen aus einem
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