Die Seelenquelle
Oberpriester und gab Benedict mit einem Wink zu verstehen, dass er mit ihm fortgehen solle. Doch der junge Mann zögerte. »Du wirst mir die Kopie der Karte bringen?«, fragte er nach, wobei er auf seiner Brust die Symbole nachzeichnete.
Anen lächelte und ahmte die Symbole nach; anschließend vollführte er mit seinen Händen Bewegungen, als ob er ein Tuch falten würde, das er danach Benedict anbot.
»Danke sehr, Anen«, erklärte Benedict. »Ich stehe in deiner Schuld.«
Am fernen Ende des Tempels befand sich in einer staubigen, kleinen Ecke eine winzige Tür, die groß genug war für eine Ziege oder einen Hund – oder einen Menschen auf Händen und Knien. Nachdem man die Riegel und Haken zurückgezogen hatte, wurde Benedict auf die dunklen Straßen des nächtlichen Niwet-Amun hinausgeführt. Sobald sie ein Stück weit vom Tempel entfernt waren, herrschte Ruhe und Frieden in der Stadt, deren Bewohner in ihren Häusern schliefen. Sie spazierten durch einen Bezirk mit großen Gebäuden – die Wohnhäuser der reichen Aristokratie – und schritten dann weiter durch Viertel, die von Mal zu Mal bescheidener wirkten, bis sie die ärmlichen Lehmziegelhütten der Dienerschicht erreichten, die den Fluss säumten. Hier gab es Menschen, die wach waren und bereits arbeiteten: Sie hackten in ihren Gärten oder bewässerten Pflanzen, sie kümmerten sich um ihre Hühner, saßen an Webstühlen, reparierten Werkzeuge oder erledigten andere häusliche Pflichten – sie arbeiteten für sich selbst, bevor sie losgingen, um in den Häusern ihrer Herren zu dienen.
Sie hielten vor einem Haus mit einem gepflegten Garten an und näherten sich einem untersetzten, fetten alten Mann, der draußen vor der Eingangstür auf einem Schemel saß. Der Oberpriester verbeugte sich und sprach den Mann an, dann wies er auf Benedict. Der Alte stand auf, verbeugte sich und gab dem Priester eine ausführliche Antwort; dann neigte er erneut den Oberkörper. Der Priester wandte sich seinem Schützling zu und zeigte an, dass Benedict bei dem Mann bleiben sollte.
Der Oberpriester ging fort, und der alte Mann sprach seinen Gast an. »Hetap«, sagte er und legte die Fingerspitzen auf seine dickliche Brust.
Benedict wiederholte den Namen, anschließend sagte er seinen eigenen, woraufhin der alte Tempeldiener ihn an der Hand nahm und ihn ins Haus führte, wo er Hetaps Ehefrau kennenlernte. Sie war eine mollige, grauhaarige Frau mit einem Dauerlächeln und Grübchen in den Wangen. Benedict wurde der einzige Stuhl im Haus zur Verfügung gestellt. Als die Sonne aufging und ein neuer Tag anbrach, wurde er mit Feigen, süßen Melonenscheiben und Fladenbrot gefüttert, das man in Palmöl gebraten und in Honig getunkt hatte. Dann wurde ihm gezeigt, wo er schlafen konnte.
All dies vollbrachte man mit einfacher Zeichensprache und einer beeindruckenden Portion guten Willens. Bei jeder Handlung seiner Gastgeber dankte Benedict ihnen und hoffte, dass sie reichlich belohnt würden für ihre Freundlichkeit ihm gegenüber – einem Fremden, der noch nicht einmal ihre Sprache beherrschte.
Eine kleine Weile lag er, doch er konnte keine Ruhe finden. Gedanken an die letzten Momente seines Vaters verdrängten alle anderen Überlegungen. Es war immer noch schwierig für ihn, zu akzeptieren, dass sein Vater nicht mehr lebte. Ständig durchlebte er jenen entsetzlichen Augenblick des Todes und fragte sich, wie er nur die Nachricht seiner Mutter überbringen könnte. Was würde sie tun, wenn sie erfuhr, dass ihr langjähriger Ehemann niemals mehr zu ihr zurückkehrte? Wie würde sie es verkraften?
Benedict fühlte sich einsam und verwaist; er war nicht imstande, irgendjemanden zu verstehen oder sich selbst verständlich zu machen – außer durch ein paar einfache Gesten. Er verbrachte den Tag in großem Kummer, beobachtete die Straße und hielt Ausschau nach Anzeichen, ob Anen die Kopie von der Karte seines Vaters brachte. Doch der Priester kam nicht. Gegen Ende des Tages sah Benedict auf dem Fluss eine Barke, die näher kam; als sie am Ort vorbeifuhr, erkannte er, dass sie voller Soldaten war. Dies deutete er als Zeichen dafür, dass die Obrigkeit von dem Problem beim Tempel erfahren hatte und die Situation alsbald aufgeklärt würde.
Als dieser erste Tag endete, ging er zu seinem Ruhelager und hatte das sichere Gefühl, dass die Karte am nächsten Tag eintreffen und er bald auf seinem Heimweg sein würde.
Der zweite Tag zog sich dahin, und obwohl Benedict nur selten die
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