Die Seelenquelle
erkennen vermochte.
»Herr?«, fragte Thutmosis und riss so Anen aus seinen Gedanken. »Was ist dein Wille?«
»Diese Rebellion muss enden. Ich werde hinausgehen und zu ihnen sprechen.« Thutmosis neigte den Kopf. »Die Tempelwachen stehen bereit, um dich zu begleiten.«
»Nein«, entgegnete Anen. »Ich gehe allein hinaus. Durch einen einzigen Priester dürften sie sich kaum bedroht fühlen. Kehre zu deinen Soldaten zurück und sorge dafür, dass sie bewaffnet sind und sich hinter den Toren bereithalten. Sollte mir irgendetwas passieren, musst du gegen sie marschieren.« Er begann, sein Gewand und seinen Halsschmuck abzulegen. »Geh!«
Ein paar Augenblicke später tauchte Anen im Hof auf; er trug nur den einfachen schendschut – einen kurzen Schurz – und den Gürtel eines gewöhnlichen Priesters. Als er sich dem Tor näherte, verbeugten sich die dort Versammelten. »Öffnet das Portal«, befahl er.
Die Pförtner zogen, und die beiden Torflügel schwangen langsam auf. Anen schritt hinaus und stand augenblicklich einer Menge dunkelhäutiger Menschen gegenüber, die bei seinem Anblick begannen, drohend Fäuste und Werkzeuge zu schütteln und Beleidigungen zu schreien. Er hielt seine Hände hoch, um die Leute zu beruhigen, und wartete darauf, dass man ihm zuhörte. Nach einem Moment verstummte die Menschenmenge widerwillig, und er fragte: »Wer spricht für euch? Wer von euch ist der Anführer?«
Ein langhaariger Bursche löste sich aus dem Pöbel. Er trug einen Bart in der Art und Weise der Habiru und hatte von den vielen Stunden unter der Sonne eine dunkle Hautfarbe bekommen. Die muskulösen Arme hatte er vor der kräftigen Brust verschränkt, und in einer seiner starken Hände hielt er einen Hammer. »Ich spreche für mein Volk und überbringe die Forderung des Pharao, dass dieser Tempel geschlossen und seine Priesterschaft aufgelöst werden soll. Die Steine dieser Mauern und Gebäude sollen nach Achet-Aton gebracht werden.«
Anen betrachtete den Kerl mit einem skeptischen Ausdruck. Er verharrte einen Augenblick und ließ seinen Blick über den dichten Ring aus zornigen Gesichtern wandern. »Falls dem so ist, wie lässt sich dann erklären, dass ich bis jetzt nichts darüber gehört habe?«
»Ich bringe einen Erlass vom Pharao«, verkündete der Arbeiter mit lauter Stimme und blickte um sich auf seine Männer; einige von ihnen stießen Rufe aus, um seine Behauptung zu bekräftigen.
»Darf ich diesen Erlass von euch sehen?«
Der Mann nickte einem der Burschen zu, die hinter ihm standen. Eine Papyrusrolle wurde nach vorne in die Hände des Priesters gereicht.
In aller Seelenruhe entrollte Anen den Papyrus und las den Inhalt. Bei dem, was er darauf sah, stieg ihm das Blut in den Kopf. Dort stand genau das, was der Habiru-Arbeiter gesagt hatte: Auf Anordnung von Echnaton sollte der Tempel niedergerissen und als Steinbruch für den Bau von Achet-Aton, der neuen Stadt des Pharao, verwendet werden. Anen atmete tief ein und zwang sich, eine ruhige Erwiderung zu geben. »Wenn dies hier wahrhaftig vom Pharao höchstpersönlich stammt, dann muss es studiert und überprüft werden. Ich werde es in meinen Besitz nehmen und mit der Nachforschung beginnen.«
Der streitlustige Bursche riss die Rolle wieder an sich. »Wir sind gekommen, um mit der Arbeit anzufangen und diesen Tempel niederzureißen.«
»Das wäre überhastet und vorschnell«, entgegnete Anen mit flacher Stimme. »Niemand wird die Erlaubnis erhalten, irgendetwas zu beginnen, solange wir nicht ein Bittgesuch zur Klärung der Angelegenheit durchgeführt und eine Bestätigung aus dem Munde des Pharao erhalten haben.« Er hielt inne und fügte dann hinzu: »Soviel ich weiß, ist das eine falsche Urkunde – es ist ein Schwindel und eine Fälschung.«
»Beim lebendigen Gott!«, fluchte der Arbeiter, und unter seinen Kameraden erhob sich ein bedrohliches Murmeln. »Du wagst es, uns so zu beschuldigen?«
»Ich mache überhaupt keine Beschuldigungen«, erwiderte Anen gelassen. »Ich stelle nur eine einfache Tatsache fest. Da ich bei der Proklamation des Pharao nicht anwesend war, kann ich nicht sicher sein, dass seine wahren Absichten auf diesem Papyrus festgehalten werden.«
Dieses Streitgespräch hätte noch geraume Zeit weitergeführt werden können, doch der Mob hatte genug gehört und begann zu rufen, der Tempel müsse sofort abgerissen werden. Irgendjemand warf einen Stein, der Anen oben an der Brust traf. Der Priester taumelte zurück, er blutete aus
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