Die Seelenquelle
Einbalsamierer hatten das Original konserviert. Das Entsetzen über diese Tat überwältigte Benedict, und er erbrach in den Staub vor seinen Füßen.
Als das trockene Würgen schließlich nachließ, stand er nur da, starrte auf das scheußliche Artefakt und fragte sich, was er nun tun sollte. Er konnte es nicht ertragen, es mitzunehmen, aber er konnte es auch nicht hier zurücklassen. Gefangen in einer Spirale der Unentschlossenheit, stierte er auf das grausige Objekt: ein ungefähr rechteckiges Stück aus fast durchsichtiger Haut, das von blauen Symbolen bedeckt war, die ihr Eigner im Verlaufe seines Lebens hatte eintätowieren lassen. Zugleich wusste Benedict, dass er eine Entscheidung treffen musste, und zwar schnell. Die Sonne kletterte höher über den Hügeln. Der Zeitpunkt, an dem der Ley aufhören würde, aktiv zu sein, rückte rasch näher. Und danach wäre Benedict gezwungen, einen weiteren Tag an diesem verhassten Ort zu verbringen.
Nun gelangte Benedict schnell zu dem Schluss, dass er nur eine einzige Wahlmöglichkeit besaß. Er kniete sich nieder und nahm die Enden des Papyrus auf. Behutsam faltete er ihn in seine ursprüngliche Form zurück und schnürte wieder das rote Band um ihn herum. Anschließend steckte er das Bündel in sein Hemd, drehte sich um und schritt zum Zentrum der Sphinxen-Allee außerhalb des halb fertigen Tempels. Er trat zur fünften Sphinx – vom Ende der Allee aus abgezählt –, blieb stehen und warf einen letzten Rundblick auf die gnadenlose Wüste. Und dann begab er sich mit dem gleichmäßigen, bedächtigen Schritttempo, das sein Vater ihn gelehrt hatte, auf seinen langen Weg nach Hause.
FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL
B rendan erwies sich als ein tüchtiger und gelehrter Fremdenführer für die Sehenswürdigkeiten von Damaskus. Sein Schützling ließ sich bereitwillig auf eine gemütliche Tour durch die Altstadt ein, in der sie die große Omayyaden-Moschee mit ihren goldenen Kuppeln und dem Schrein Johannes des Täufers besuchten. Sie besichtigten die Karawanserei Chan As’ad Pascha mit ihren ruhigen, von Palmen beschatteten Springbrunnen und durchschritten nacheinander Räume, die mit verschnörkelten Fliesen und Wandschirmen verziert waren. Dann sahen sie die Kapelle des heiligen Paulus, die man genau an der Stelle errichtet hatte, wo er mitten in der Nacht in einem Korb die Stadtmauer heruntergelassen worden war und so aus Damaskus fliehen konnte. Des Weiteren besichtigten sie das Bab al Fardis oder Paradiestor, den großen Suq al-Hamidiyya mit Meilen von Gängen und einer verwirrenden Unzahl von Läden, die Bab Sharqi oder Gerade Straße mit ihren Marmorsäulen und römischen Bögen. Und während sie schlenderten und die Sehenswürdigkeiten in sich aufnahmen, unterhielten sie sich miteinander. Cass erlangte dadurch selbstverständlich ein besseres Verständnis vom Wesen des Ley-Reisens ebenso wie von der Arbeit und der Philosophie der Gesellschaft. Dabei erfuhr sie auch, dass all das mit einem Mann namens Arthur Flinders-Petrie begonnen hatte.
»Ein außergewöhnlicher Mensch: wissbegierig, genial und mutig wie ein Löwe – ein Forscher von höchstem Rang.« Sie saßen an einem winzigen runden Tisch unter einer gestreiften Markise und tranken süßen, wohlriechenden Hibiskustee aus Gläsern in silbernen Halterungen, während um sie herum der Tag langsam dahinschwand. »Ist Ihnen der Name eigentlich jemals begegnet?«, wollte Brendan wissen.
»Nein, niemals«, antwortete Cass.
»Schade. Doch ich bin nicht überrascht. Dass man heutzutage in den Annalen menschlicher Errungenschaften seiner nicht gedenkt, ist auf den folgenden Umstand zurückzuführen: Seine Arbeit war größtenteils geheim und fast ausschließlich auf die Erforschung der Linien tellurischer Energie beschränkt – der Ley-Linien, mit anderen Worten. Dies allein, vermute ich, wäre Grund genug, eine Gesellschaft zu gründen, in der seine Arbeit fortgeführt wird. Aber da gibt es noch mehr.« Brendan hielt inne und betrachtete sie eingehend, als ob er ihre Bereitschaft abschätzen würde, bestimmte Erkenntnisse aufzunehmen.
Cass spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte. »Ich höre Ihnen zu.«
»Arthur hat etwas entdeckt«, sagte Brendan, der seine Stimme senkte. »Auf einer seiner zahlreichen Reisen hat er etwas von solch unvorstellbarer Größe entdeckt, dass es den Verlauf seines Lebens verändert hat. Zwar setzte er seine Reisen wie früher fort, doch er bewahrte seine Entdeckung als streng
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