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Die Seelenquelle

Die Seelenquelle

Titel: Die Seelenquelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen R. Lawhead
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Augen von der Straße abwandte, kam niemand vom Tempel. Der dritte Tag verstrich in ähnlicher Weise; der einzige Unterschied bestand darin, dass sich der Aufruhr in der Stadt auszudehnen schien. Die Bewohner des Ortes wurden unruhig, und es hatte den Anschein, dass sich viele von ihnen fürchteten. Zwischen Nachbarn gab es heimliche Diskussionen, und jedermann war auf der Hut.
    Der junge Mann war fast außer sich vor Enttäuschung und Ungeduld. Und so traf er die Entscheidung, nicht noch einen weiteren Tag zu warten, sondern – komme, was wolle – zum Tempel zurückzukehren und selbst nachzusehen, was dort passierte. Offensichtlich war etwas falschgelaufen. Wie lange brauchte man wohl, um eine einfache Kopie der Tattoos auf der Brust seines Vaters herzustellen? Benedict machte sich selbst Vorwürfe, dass er fortgegangen war, ohne darauf zu bestehen, selbst die Tattoos zu kopieren: Denn so sehr er sich auch vor dieser Aufgabe gefürchtet hätte – zumindest wäre sie längst erledigt gewesen. Er verbrachte eine letzte ruhelose Nacht, und als es am nächsten Morgen gerade zu dämmern begann, erhob er sich, um aufzubrechen. Hetap und seine Frau versuchten, ihn davon abzuhalten, doch er blieb unerschütterlich bei seinem Entschluss. Er dankte seinen Beschützern dafür, dass sie sich um ihn gekümmert hatten, und ging fort.
    Auf halbem Weg durch den Ort erblickte er einen Streitwagen, der auf ihn zuraste. Er wartete, und als der Wagen näher herankam, erkannte er Thutmosis. Der Anführer der Wachen war offensichtlich in einem Kampf gewesen: Er trug Verbände an seinem rechten Arm und am linken Bein direkt oberhalb des Knies; zudem war eines seiner Augen schwarz und verfärbt von einem üblen Hieb.
    Thutmosis hielt die Pferde an und trat von seinem Streitwagen herunter. Aus einer Tasche, die er an einem Riemen über seiner Schulter trug, holte er ein in Papyrus gewickeltes Bündel heraus, das mit einem rot gefärbten Leinenband verschnürt war. Der Befehlshaber grüßte Benedict und drückte ihm das Bündel fest in die Hände.
    »Danke schön«, sagte Benedict. Das Bündel war flach und entlang einer Seite mit einer Reihe schwarzer Hieroglyphen geschmückt; es fühlte sich sehr leicht an, so als ob es fast nichts wiegen würde.
    Benedict zog an dem roten Band, um das Bündel aufzuschnüren. Sogleich streckte der Befehlshaber die Hände aus und hielt ihn davon ab. »Rewi rok« , sagte er.
    »Nicht?«, fragte Benedict nach.
    Thutmosis schüttelte den Kopf und zeigte an, dass Benedict sofort in den Streitwagen steigen sollte. Der junge Mann, der das Bündel fest umklammert hielt, kletterte hinter dem Befehlshaber in das Gefährt, das sogleich mit einem Ruck nach vorne schoss. Mit klappernden Hufen rasten sie aus dem Ort. Kurz darauf sausten sie an Bohnen- und Gerstenfeldern vorbei, anschließend ging es die Hügel hoch und hinein in die Wüste.
    Als Benedict es schließlich gut verstand, das Gleichgewicht in dem schlingernden, rüttelnden Gefährt zu halten, kam die lange Allee mit den widderköpfigen Sphinxen in Sicht. Nur wenige Augenblicke später hielt der Streitwagen am Ende der Allee, wo der Heilige Weg begann, der zum Tempel führte. Thutmosis gab Benedict mit Gesten zu verstehen, dass er aussteigen sollte. Dann wendete der Befehlshaber sein Gespann, hob zum Abschied seine Hand und raste davon. Er ließ Benedict zurück, damit der junge Mann allein und ungesehen seine Heimreise antreten konnte.
    Es war noch früh am Morgen. Die Sonne fing gerade an, über der Hügelkette im Osten aufzugehen. Benedict wusste, welche Sphinx zu markieren war, um den Sprung durchzuführen; sein Vater hatte ihn gut unterrichtet. Doch zuerst musste er auf die Karte schauen – die Kopie der Tattoos seines Vaters. Er kniete sich dort nieder, wo das Steinpflaster endete. Vorsichtig schnürte er das rote Leinenband auf und wickelte den Papyrus auseinander.
    Was er sah, veranlasste ihn dazu, auf die Füße zu springen und unwillkürlich zwei Schritte zurückzugehen. Er starrte auf das Bündel am Boden; Erstaunen und Abscheu durchschüttelten ihn in Wellen, sie ließen ihn aufkeuchen und nach Luft ringen.
    Denn auf dem Boden vor ihm war nicht bloß eine von den Tempelschreibern angefertigte Kopie der Karte, sondern die Karte selbst – die Haut seines Vaters, die in Pergament umgewandelt worden war. Seine Unfähigkeit, mit den Ägyptern zu kommunizieren, hatte zu einem grässlichen Missverständnis geführt. Keine bloße Kopie – die

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