Die Seelenquelle
Überlegung im Hinterkopf holte Kit die Ley-Lampe aus der Innentasche hervor, die er in sein Hemd aus Hirschfell genäht hatte. Wilhelminas seltsames Messinggerät war jetzt dunkel; die kleine Reihe von Löchern, die in der Gegenwart von tellurischen Aktivitäten hellblau leuchteten, war schwarz und leer. Dadurch wusste Kit, dass das Ley-Portal, welches sich geöffnet und ihm so ermöglicht hatte, in die andere Welt hinüberzugehen, nicht mehr aktiv war. Nur um sicherzugehen, bewegte er den Apparat wellenförmig durch das Innere des Knochenhauses. Die Lampe blieb dunkel und kalt: ein unbeleuchtetes Stück gegossenes Metall. Das Verlustgefühl verstärkte sich, als er begriff, dass er nicht in der Lage sein würde, zur Seelenquelle zurückzukehren, zumindest jetzt noch nicht – nicht, bis sich der Ley oder das Portal abermals öffnete. Kit steckte das Instrument in die Tasche zurück; er würde es später erneut versuchen. Nachdem er sich damit abgefunden hatte, dass er warten musste, lehnte er sich zurück, lauschte dem langsamen, einfachen Rhythmus des schlafenden En-Ul und döste bald vor sich hin.
In seinem traumartigen Zustand ließ Kit seinen Geist umherstreifen, wohin es ihn trieb, und er wanderte binnen Kurzem zu Wilhelmina. Kit fragte sich, was sie gerade tat. Suchte sie immer noch nach ihm? Hatte sie Angst um seine Sicherheit? Er selbst hatte keinerlei Angst um sich. Er hatte einen Platz unter den Fluss-Stadt-Bewohnern gefunden; und abgesehen vom offenkundigen Fehlen einiger weniger leiblicher Genüsse überlebte Kit nicht nur, sondern blühte geradezu auf. Er war auf eine Weise, die er nicht hätte vorhersehen können, tatsächlich zufrieden. Er wollte immer noch letzten Endes heimkehren, doch für jetzt schien es richtig, hier zu bleiben. Wenn dies sein Schicksal war, dann konnte er das akzeptieren.
Der Gedanke, dass Wilhelmina ihn unermüdlich suchte, ließ in Kit den Wunsch entstehen, ihr irgendwie zu versichern, dass er sich in Sicherheit befand und damit zufrieden war, zu warten, wie lange es auch immer dauern mochte. »Ich bin okay, Mina«, murmelte er, als er einnickte. »Mach dir keine Sorgen. Lass dir ruhig Zeit. Ich werde auf dich warten.«
Für eine Weile schlummerte Kit mit Unterbrechungen. Als er sich wieder rührte, war es dunkler im Knochenhaus als zuvor. Er gähnte, streckte sich und schaute um sich; dann bemerkte er, dass er beobachtet wurde.
»Du bist wach, En-Ul«, sagte er laut und erzeugte in seinem Bewusstsein das Bild eines Mannes, der gerade aufwachte.
Der Uralte stieß das übliche zufriedene Grunzen aus, das Kit mit Zustimmung assoziierte; und vor seinem geistigen Auge sah Kit den Clan, wie er an einem Feuer saß und Fleisch aß … gefolgt von dem Bild eines leeren Mundes, der sich weit öffnete.
»Bist du hungrig?«, fragte Kit und rieb sich den Bauch – eine pantomimische Geste für Hunger. »Sollen wir zum Lager zurückgehen?« Mit seinen Fingern, die auf der Handfläche »marschierten«, ahmte er symbolisch das Gehen nach und wies dann vage in Richtung der Schlucht.
Erneut kam als Antwort das zustimmende Grunzen, und der alte Stammesführer begann, sich zu erheben. Kit half ihm, sich aufzusetzen. »Wir können es langsam angehen«, riet er und formte ein mentales Bild von diesen Gedanken. »Das hat Zeit.«
Eine Weile saßen sie nur schweigend da; anschließend setzte sich En-Ul in Bewegung, um aus der Hütte hinauszukriechen. Kit folgte ihm und tauchte in das frühe Dämmerlicht ein. Eine Stille lag auf dem Wald, die immer wieder vom Schnee sanft unterbrochen wurde. Er konnte leise platschende Geräusche hören: Sie entstanden durch Schneeklumpen, die von den Bäumen in ihrer Umgebung herabfielen. Die Luft war frisch und duftete nach Kiefern. Kit holte tief Atem, sog die Luft in seine Lungen ein und stieß sie wieder aus, wobei er einen eisigen Geschmack auf seiner Zunge spürte. En-Ul blieb einen Augenblick stehen, schaute sich mit starrem Blick um und lauschte. Dann drehte er sich um und machte sich auf den Weg zurück zur Schlucht und in die Sicherheit des Felssimses, wo der Clan auf sie wartete.
Lange bevor sie den Talboden erreichten, senkte sich die Nacht herab. Auf dem Pfad zur Kalksteinfelswand erblickte Kit zwischen den Bäumen Fackellicht; und wenig später wurden sie von Mitgliedern des Fluss-Stadt-Clans begrüßt, die hinausgegangen waren, um sie willkommen zu heißen. Wieder einmal erlebte Kit den unheimlichen sechsten Sinn dieser Urmenschen; er stellte
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