Die Seelenquelle
nächsten Morgen En-Ul erhob und sich vor den um das Feuer kauernden Clan stellte, fiel immer noch Schnee. Kit bemerkte wie die anderen sofort, dass es sich nicht um ein übliches Verhalten handelte; und alle blickten in gedämpfter Erwartung auf das, was der Uralte tun würde. En-Ul, der weiterhin vor seinem Volk stand, schaute sich um und gab dann ein Grunzen von sich. In Kits Bewusstsein gelangte das Bild von einem matt flackernden Licht und einer Hand. Die Hand war rot, und Blut tropfte davon herab. Dann sah er Tiere – ganze Herden von Rotwild und Antilopen sowie großen, langsam laufenden Mastodonten mit rötlichem Haar –, die alle auf einer großen Ebene mit hohem Gras in Bewegung waren.
Das Bild verblasste, und zu Kits Überraschung erhoben sich alle Jäger des Clans gleichzeitig und begannen, vor und zurück zu schwingen und mit Grunzlauten ihre Zustimmung kundzutun. Kit beobachtete sie und hoffte, irgendein anderes Zeichen zu sehen, doch nichts Weiteres erschien. Dardok, den Kit in Gedanken Großer Jäger nannte, nahm seinen Speer auf, streckte ihn hoch und stieß einen tiefen, grollenden Ruf aus, wie der eines Elchbullen oder Büffels. Die anderen Jäger begrüßten dies, indem sie ihre eigenen Speere hochstreckten und Bullengebrüll wiederholten. Dann verließen sie den Felsüberhang und stiegen den schmalen Weg hinab, der zum Talboden führte. Dardok brach als Letzter auf. Als er sich jedoch umdrehte, um fortzugehen, erzeugte En-Ul einen klickenden Laut in seiner Kehle. Dardok hielt inne; irgendetwas geschah zwischen dem alten Stammesführer und Großer Jäger. Dann entdeckte Kit, dass er selbst Gegenstand einer Prüfung war. Dardok grunzte zustimmend, und En-Ul streckte eine Hand aus und ließ sie auf dem Kopf von Kit ruhen.
Bei dieser Berührung verspürte Kit eine plötzliche Wärmewelle, die sich durch ihn ausbreitete, und vor seinem geistigen Auge sah er, wie er selbst mit den Jägern ging. Dardok betrachtete ihn erwartungsvoll. Nun wusste Kit, dass er sie auf ihrer Expedition begleiten sollte. Dardok bückte sich und legte seinen Speer ab. Dann nahm er ein paar glühende Stücke aus dem Feuer auf und legte sie in ein Gefäß, das aus einem ausgehöhlten Holzstück hergestellt war. Er bedeckte die Glutstücke mit Asche, um sie zu schützen, ergriff seinen Speer und verließ den Felssims.
Kit folgte Großer Jäger den Pfad hinab zu dem gefrorenen Fluss – und in einen Tag hinein, der weiß wie ein ausgebleichter Knochen war.
VIERTES KAPITEL
W ilhelmina gelangte zu dem Schluss, dass es Kit geglückt war, vor Burleighs mörderischen Klauen zu fliehen. Dann jedoch musste irgendetwas beim Ley-Sprung durcheinandergeraten sein. Infolgedessen war er nicht am vereinbarten Zielort gelandet. Kurzum, Kit war nun irgendwo in Raum und Zeit verschollen. Zum Glück hatte sie vor seiner Flucht daran gedacht, sich das Teilstück der Meisterkarte von ihm geben zu lassen, ansonsten wäre es ebenfalls verloren gegangen. Dieses Stück aus pergamentierter Menschenhaut, das aufgrund seines Alters beinahe durchsichtig war, hatten Kit und Thomas Young aus dem Grabmal von Anen geborgen, einem Hohen Priester des Amun-Tempels, der während der 18. Dynastie gelebt hatte. Mina hatte sich das Pergament genau angesehen, den obskuren verschnörkelten Symbolen jedoch nichts entnehmen können, die sich ohne erkennbare Ordnung darauf befanden. Danach hatte sie es in ein Stück sauberes Leinen eingewickelt und in der eisernen Schatulle versteckt, die im Innern ihrer Kleidertruhe – sie stand am Fußende ihres Bettes – fest angeschraubt war.
Wahrscheinlich hätte ich Kit ebenfalls in der Schatulle einschließen sollen , dachte sie angesäuert. Wegen seines Verschwindens war Wilhelmina endlos besorgt; inzwischen hatte sie deswegen sogar schlaflose Nächte. Was war Kit bloß passiert? Sie hatte ihm eindeutige Anweisungen gegeben – wohin er gehen und was er tun sollte –; und der Fluss-Ley, wie sie ihn nannte, war erprobt und zuverlässig. Sie wusste dies, weil sie persönlich ihn viele Male erforscht und ihn für vollkommen verlässlich, ja sogar für langweilig befunden hatte. Niemals hatte sie auch nur die geringsten Schwierigkeiten bei seiner Durchquerung erlebt. Dazu kam noch, dass der Fluss-Ley zu einem sehr sicheren Teil der Welt führte: einem Ort, den sie aufgrund der alten Getreidemühle in seiner tiefen Kalksteinschlucht einfach Mühlental genannt hatte. Es war ein friedlicher, bäuerlich geprägter Landstrich.
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