Die Seelenquelle
Und nach allem, was Mina dort bislang gesehen hatte, wurde er nur von sanftmütigen Menschen bewohnt, die ihre Gänsescharen und Schafherden hüteten und sich gewissenhaft um ihre eigenen Angelegenheiten kümmerten. Was konnte da möglicherweise schiefgelaufen sein?
Doch sie kannte Kit – bei ihm war natürlich fast alles möglich. Sie vermochte auch nicht ansatzweise sich vorzustellen, was er gemacht haben könnte. Sicherlich, er war zu Fuß aus Prag geflohen und von Burleigh sowie dessen Bande gejagt worden. Zweifellos hatte das die Dinge ein Stück weit komplizierter gemacht, aber Mina hatte sich letzten Endes um seinen Schutz gekümmert und ihm ein todsicheres Versteck organisiert. Doch auf eines konnte man sich verlassen: Kit Livingstone vermasselte alles spitzenmäßig!
Allerdings sollte sie selbst angesichts der nervenaufreibenden Begleitumstände seines Verschwindens immer noch in der Lage sein, ihn zu lokalisieren, nachdem die Hitze des Gefechts erloschen war. Die Tatsache jedoch, dass sie nach mehrmaligen Versuchen in zahlreichen Zeitperioden nicht imstande war, ihn zu orten – und sie hatte es immer wieder getreulich versucht, sobald sie auch nur einen Moment frei hatte –, war zutiefst besorgniserregend. Wenn Kit verwundet oder, schlimmer noch, getötet worden wäre, hätte sie ohne Zweifel seinen Leichnam auf dem Pfad gefunden, als sie den Ley auf der anderen Seite absuchte. Zwar könnte Kit, ob er nun tot oder verwundet war, von einem wilden Tier irgendwohin weggezerrt worden sein, aber dann würde es irgendwelche Anzeichen dafür geben. Und bei ihren zahlreichen Suchen war nichts aufgetaucht, das darauf hinwies, Kit könnte auf irgendeine Weise zerfleischt oder in einen Kampf verwickelt worden sein. Darüber hinaus gab es Giles’ Augenzeugenbericht, demzufolge Kit ohne irgendeine Verletzung davongekommen war. Für Mina gab es keinen Grund, an dieser Aussage zu zweifeln – und dies galt umso mehr, als ihre Informationsquellen darauf hindeuteten, dass Burleigh trotz all seiner Bemühungen nicht in der Lage gewesen war, Kit lebendig oder tot zu finden. Es kursierte das Gerücht, er wäre bei dem verzweifelten Versuch, der Gefangennahme zu entgehen, in den Fluss gesprungen und davongeschwommen. Aber das war eine bloße List, die Mina ausgeheckt hatte, um zu vertuschen, dass er auf ihrer Ley-Linie geflüchtet war. Und nur angenommen, dass Kit in Panik geraten war und so etwas Verrücktes getan hatte, wie in den Fluss zu springen und sich auf diese Weise selbst zu ertränken – dann hätte man seine durchnässte Leiche bestimmt irgendwo flussabwärts im Wasser entdeckt. Nur um sicherzugehen, hatte Mina überall entlang der Moldau bei Behördenvertretern in Städten und Dörfern diskrete Nachforschungen angestellt. Niemand hatte mehr als nur einen ausgewaschenen Schuh gefunden.
Jetzt also, Wochen später, war Wilhelmina nicht nur frustriert und beunruhigt, sondern auch mit ihrer Weisheit am Ende. Sie hatte noch eine letzte Möglichkeit, auf die sie zurückgreifen konnte. Wenn das keinen Erfolg haben würde, gab es keine Hoffnung mehr. In der Zwischenzeit bemühte sie sich darum, die Feinheiten der neuen, verbesserten Ley-Lampe zu erlernen – der modernisierten Version des Geräts, das sie Kit zugesteckt hatte, damit es ihm bei der Flucht half. Das neue Modell war ihr wie das erste von ihrem Freund und Mitverschwörer Gustavus Rosenkreuz bereitgestellt worden, einem jungen Alchemisten am Hofe des Kaisers. Rudolf II. unterhielt in seinem Palast eine geheime Verbindung von Alchemisten, die mit der Aufgabe betraut waren, den Schleier zu lüften, der verschiedene Mysterien des Universums verbarg, von denen das Wichtigste die Unsterblichkeit war sowie die Frage, wie man sie erlangte. Diese erhabene und beeindruckende Arbeit wurde von Doktor Bazalgette geleitet, einem der Favoriten des Kaisers; und Gustavus, der sich sehr ausgenutzt fühlte, war sein persönlicher Assistent.
Natürlich verlangte eine solch extrem geheimnisvolle Arbeit eine regelmäßige Stärkung, welche die Alchemisten im Großen Kaiserlichen Kaffeehaus zu sich nahmen. Der von Kopf bis Fuß verschroben gekleidete Zirkel hielt eine ständige Präsenz im Kaffeehaus aufrecht; und Wilhelmina stellte sicher, dass sie stets einen guten Tisch hatten und das Beste von Etzels süßen Backwaren erhielten. Über Gustavus belieferte sie die Alchemisten mit »bitterer Erde«, das heißt mit gebrauchtem Kaffeesatz, den sie für ihre geheimnisvollen
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