Die Seelenquelle
ihn sich als eine Art von mentalem Funk vor, der es ihnen erlaubte, augenblicklich und über eine beträchtliche Distanz hinweg miteinander zu kommunizieren. Sie mochten vielleicht das stimmliche Vermögen von intelligenten Kleinkindern haben, doch auf telepathischem Gebiet waren sie geniale Zauberer.
Ihr Aussehen war ebenfalls sehr irreführend. Ein flüchtiger Beobachter mochte nicht ohne Grund zu der Annahme gelangen, dass das typische Mitglied des Fluss-Stadt-Clans ein zotteliges, schwerfälliges Wesen war, von langsamer Beweglichkeit und Auffassungsgabe – ein ungeschlachter, tollpatschiger Rohling, dem jegliche menschliche Verfeinerung fehlte. In Wirklichkeit waren sie flink und geschmeidig und besaßen eine seltsame Anmut, die nur ihnen eigen war. Sie konnten sich durch ihre von Wäldern geprägte Welt vollkommen still und fast unsichtbar bewegen; sie wussten, wie man sich alle Nahrungsquellen zunutze machte, die im Erdboden verwurzelt waren oder sich auf Beinen oder in der Luft bewegten. Außerdem besaßen sie eine Güte, Geduld und eine langmütige Toleranz wie die eines Heiligen. Sie würden freilich niemals für elegant gehalten werden: Ihre stämmige, muskulöse Gestalt, ihre dicken Gliedmaßen und ihre breiten Körper waren nicht zum Tanzen bestimmt, sondern dienten der Ausdauer. Es stimmte, dass sie zottelig waren, doch in den Monaten, die Kit mit ihnen verbracht hatte, war er nicht weniger behaart geworden: In vielerlei Hinsicht war das Leben ohne Scheren einfacher.
Die Clanmitglieder waren froh, die beiden zu sehen. Sie klopften ihnen leicht auf Schultern und Rücken, tätschelten sie und gaben zufriedene Grunzlaute von sich; auf diese Weise wurden die zwei Neuankömmlinge wieder in den Schoß der Gemeinschaft aufgenommen. Für Kit fühlte es sich wie eine echte Heimkehr an: Ja, er hatte einen Platz in diesem Volk, doch im Lichte seiner Erlebnisse am Quell der Seelen kam er nicht umhin, zu denken, dass da noch etwas mehr war – dass er irgendeine bestimmte Aufgabe hier hatte. Worum es sich bei dieser Aufgabe handeln mochte, entzog sich ihm momentan, doch dieses Gefühl war echt und unausweichlich.
Die Worte von Sir Henry fielen ihm wieder ein: So etwas wie Zufall gibt es nicht.
Trotz allem – oder vielleicht auch aufgrund dessen –, was ihm passiert war, konnte Kit dies für bare Münze nehmen und denken: Ich bin dafür bestimmt, hier zu sein. Alles, was er nun tun musste, war herauszufinden, warum er hier war.
Der herzliche Empfang fand schließlich ein Ende, und die Begrüßungsgesellschaft führte sie ins Winterquartier zurück. Das leise Flackern der brennenden Fackeln und das gedämpfte Knarren von Schnee unter den in Bärenfellen gewickelten Füßen waren die einzigen Geräusche, die ihren Marsch begleiteten. Sie gingen am Rande des nun zugefrorenen Flusses entlang; zahlreiche schneebedeckte Steine bildeten kleine Erhöhungen, sodass sie sich auf einem unebenen Gebiet bewegten. Dann marschierten sie auf dem schmalen Weg entlang der Schluchtwand hoch zu dem großen Felssims, der im Winter das Zuhause des Clans war. Als sie taumelnd das Lager erreichten, war Kit völlig durchgefroren. Auf einer breiten, flachen Stelle am Rand des Simses hatte man ein Lagerfeuer errichtet, das regelmäßig gehütet wurde und Tag und Nacht brannte. Schlafmatten aus Bündeln getrockneten Grases, die mit Fellen und Pelzen bedeckt waren, lagen verstreut im Umkreis des Feuers. Im hinteren Bereich des Simses gab es zwei Höhlen – die eine für Lebensmittel, die andere für Wasser –, die es dem Clan ermöglichten, ganz in der Nähe Vorräte bereitzuhalten.
Kit schlängelte sich durch die Leute, die ihn willkommen hießen, und stellte sich so nahe an das Lagerfeuer, wie er es wagen konnte. Dort blieb er, bis die Flammen ihn gewärmt hatten. Fleischstreifen von einer Hirschkeule brutzelten auf Holzspießen und erfüllten die Luft mit dem Duft von röstendem Fleisch. Als es gebraten war, wurden die Spieße von Hand zu Hand weitergereicht. Nachdem sich alle satt gegessen hatten, ließ sich die Fluss-Stadt für die Nacht nieder. Kit saß lange Zeit aufrecht da, beobachtete das Feuer und dachte darüber nach, was er im Knochenhaus erlebt hatte und was es bedeuten könnte. Zu guter Letzt wurde auch er müde. Er suchte sich einen Platz zwischen den verstreut liegenden Körpern, zwängte sich hinein und schlief zu den bedächtigen Geräuschen der schwelenden Glut.
Es schneite die ganze Nacht durch. Und als sich am
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