Die Seelenquelle
wie Benedict es verstand, befand sich Anen als Zweiter Prophet eine Stufe unter dem Hohen Priester; doch nichtsdestotrotz wurden ihm aufgrund der Blutsbande zur königlichen Familie alle Vorteile des Herrscherhauses zuteil.
Als Kind von sechs Jahren hatte Benedict Ägypten besucht; sein Vater hatte ihn damals hergebracht, um Anen kennenzulernen. Doch außer daran, dass er am Tag der Reise sehr krank gewesen war und die restliche Zeit eine große Hitze geherrscht hatte, konnte er sich fast an nichts erinnern. Diesmal allerdings war er entschlossen, so viel wie nur möglich von dem Erlebnis in sich aufzunehmen – erst recht, da die gegenwärtigen Probleme bedeuteten, dass ihr Besuch verkürzt werden könnte.
Benedict lauschte dem zischenden Murmeln der Älteren und fragte sich, wie er diese Sprache jemals lernen sollte. Dies war der Grund, weshalb sie hergekommen waren: um Benedict zu ermöglichen, seine Ausbildung durch das Erlernen der Sprache voranzubringen – genauso wie dies vor ein paar Jahren geschehen war, als er einige Zeit in China bei der Schwester seiner Mutter und ihrer Familie verbrachte. Andererseits, wenn sich die Schwierigkeiten, über die sein Vater und Anen gerade jetzt diskutierten, vertiefen und ausbreiten sollten, müsste er sich keine Sorgen deswegen machen, da sie in diesem Fall nicht hierbleiben würden.
»… die Habiru sind fleißige Arbeiter und bleiben unter sich. Der Pharao hat ihnen Land in Gosen gegeben, und sie leben dort sehr friedlich. Es gibt keine Schwierigkeiten mit ihnen. Nein …« Anen schüttelte seinen glatt rasierten Kopf. »Nein, die Schwierigkeit ist, dass Echnaton ihre seltsame Glaubenslehre aufgegriffen hat, gemäß der ihr Gott – ein gestaltloser Geist namens El – der einzige Gott ist, der es wert ist, von jedem verehrt und angebetet zu werden. Wieso? Wieso sollte dies so sein? Es ergibt keinen Sinn. Wir sagen doch auch nicht, dass nur Amun angebetet werden muss. Oder nur Horus. Oder Anubis. Es ist Platz für alle da. Du darfst Sekhmet oder Ra verehren, wenn du es möchtest, während ich die Freiheit besitze, Ptah oder Hathor oder Isis zu huldigen, so wie es mir passt. In Ägypten ist Platz für jeden, und jeder ist frei, den Geboten seines eigenen Herzens zu folgen.«
Für Benedict klang dies vernünftig, doch ihm fiel auf, dass sein Vater dazu keinen Kommentar gab.
Der Priester lächelte traurig. »Aber so ist es nicht bei den Habiru. Ihr Gott El stellt viele Forderungen, und eine von ihnen ist, dass keine anderen Götter angebetet werden dürfen von jenen, die ihn anrufen. Ich glaube, dies ist so, weil die Habiru nicht erkennen, dass all die Götter nichts weiter sind als Ausdrucksformen des einen, absoluten Gottes.«
»Ich habe gehört, dass dies gesagt wird«, merkte Arthur an. Wie ein englischer Gentleman, der er war, stritt er nicht mit seinen verschiedenen Gastgebern über Religion. Welche Welt oder Epoche er auch immer besuchte, er behielt seine eigenen Ansichten für sich. Es war eine der Regeln, die er als Ley-Reisender lebte.
»Aber diese Habiru müssen selbst einfache Dinge, wie die Opferung und die Opfergabe, sehr schwierig machen«, fuhr Anen fort. »Ich verstehe das nicht. Unglückseligerweise hat sich der Pharao von den Grundsätzen der Habiru betören lassen und den Göttern seines eigenen Volkes den Rücken gekehrt. Er meidet bestimmte Nahrungsmittel und will sich nicht das Haar schneiden lassen: alles, um seinen neuen Gott zu beschwichtigen, den er Aton genannt hat.« Missbilligend verzog der Priester seine Lippen. »Aber das ist bloß El unter einem anderen Namen. Das ist, wo die Schwierigkeiten liegen.«
»Ich verstehe das Problem«, erklärte Arthur. »Aber was willst du deswegen unternehmen?«
»In zwei Tagen schickt der Tempel des Amun eine Delegation in die Stadt Achet-Aton, um die Angelegenheiten mit dem Pharao zu besprechen. Und um zu erkennen, wie dieses gegenwärtige Problem gelöst werden kann. Du bist herzlich eingeladen, mit uns zu kommen.«
Anen blickte zu Benedict, der auf seinem Polster ein Nickerchen machte. »Es scheint, dass wir mit unserem Gespräch unseren jungen Reisenden erschöpft haben.« Er hob eine Hand, und einer der Diener trat herbei und kniete sich neben ihm hin. Der Priester sprach ein paar Wörter, und der Diener erhob sich, stellte sich neben den schlafenden Jüngling und schubste ihn sanft an.
Benedict wachte erschrocken auf. »O!« Er wurde rot im Gesicht. »Es tut mir leid, Vater.«
»Macht
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