Die Seelenquelle
Frauenkloster und richtete es ein, dass sie sich einer Gruppe von französischen Nonnen, die zu Besuch da waren, bei ihrer Wallfahrt anschließen konnte. Das Ziel ihrer Pilgerreise war die Abadia de Santa Maria, die hoch oben in dem gezackten Gebirgszug nordwestlich der Stadt lag. Es war ein dreitägiger Fußmarsch, doch Wilhelmina genoss die frische Luft und die ungezwungene Gesellschaft der Nonnen, die beim Gehen sangen. In jeder Dorfkapelle und vor jedem Bildstock am Wegesrand hielten sie an, um zu beten und sich auf ihren Aufenthalt im Kloster vorzubereiten.
Die kleine Gesellschaft kam schließlich am späten Nachmittag des dritten Tages an. Sie betraten die enge Schlucht, in die das Kloster und seine verschiedenen Nebengebäude in mühevoller Arbeit hineingezwängt worden waren. Die senkrecht in den Himmel steigenden Gipfel der sie umgebenden Berge erhoben sich auf allen Seiten, abgesehen von einer, die eine herrlich glänzende Aussicht auf das Land bot, das sich von den abfallenden Gebirgsausläufern bis ganz zur Küste erstreckte. Als der Schwarm Nonnen dastand und die Pracht des Klosters und seine Lage bewunderte, läutete die Glocke zur Vesper. Sie folgten dem allgemeinen Strom der Mönche und Besucher und schritten mit ihnen den steilen Hang zur Kirche empor.
Oben auf der Promenade stiegen Reihen von Stufen hoch, die in einen Hof mündeten, an dessen Ende sich eine Pforte befand. Hinter den Toren war ein schönes Atrium, das von Statuen gesäumt wurde, die Apostel und Heilige darstellten. Der Lichthof war mit eingelegten Marmorsteinen gepflastert, die unterschiedliche Farben aufwiesen und einen geometrischen Wirbel aus sich schneidenden Linien absteckten, in dessen Zentrum sich ein rundes Mosaik befand: Es stellte die vier Flüsse dar, die aus Eden herausströmten. Im Hof standen die Besucher dicht gedrängt und verhielten sich in einer sehr eigenartigen Weise. Sie standen in einer langen Linie, die sich durch den Hof zurückschlängelte; und jeder von ihnen wartete geduldig darauf, bis er an der Reihe war, um vorzutreten und sich allein auf die mittlere Platte des Mosaiks zu stellen. Dort angekommen, betete jeder von ihnen: einige in der klassischen Gebetshaltung mit gefalteten Händen und gebeugten Köpfen, doch viele andere in einer anscheinend ausgelassenen Hingabe – die Arme nach oben gestreckt, das Gesicht dem klaren blauen Himmel über ihnen zugewandt.
Jeder Gläubige stand in dieser Weise eine Zeit lang, bevor er wegging, um sich den anderen anzuschließen, die sich in den Kirchenraum begaben. Dieses eigentümliche Verhalten blieb Wilhelmina nicht verborgen. Das ist sehr merkwürdig , dachte sie. Hier ging eindeutig etwas vor, und sie nahm es als ein Zeichen, das ihre Entscheidung bestätigte, hierherzukommen.
Sie folgte den anderen, während sie sich langsam zum Eingang bewegten. Als Mina sich dem Zentrum des Mosaikkreises näherte, verspürte sie den feinen, doch unverwechselbaren Schauer von aufgestauter Energie, den sie immer in der Gegenwart eines aktiven Leys empfand. Er war da: mit Steinen abgesteckt in der Mitte des Atriums, wo offenkundig auch die Hundert- und Tausendschaften von Pilgern die latente Energie in irgendeiner Weise wahrnahmen.
Schließlich betrat sie den Kirchenraum und hielt den ganzen Gottesdienst durch. Sie lauschte den himmlischen Stimmen des Chores und fragte sich, wie sie die Bedeutung von allem herausfinden konnte. Am Ende des Gottesdienstes befand sie sich in einer besinnlichen Stimmung und war ganz in Betrachtung versunken; und all ihre Erwägungen wurden überspannt von einem Gefühl des Friedens und – zumindest – der Richtigkeit, wenn nicht gar der Zufriedenheit: Sie hatte das Empfinden, dass alles so war, wie es sein sollte.
Im Speiseraum des Klosters nahm sie zusammen mit Schwestern aus einem Dutzend verschiedener Länder ein leichtes Abendmahl zu sich; dann gab man ihr eine Pritsche im Schlafsaal. Wilhelmina schlief gut und erwachte bei Sonnenaufgang, als Glockengeläut die Bewohner des Klosters zum Gebet rief. Gleich als der Gottesdienst beendet wurde, machte sie sich daran, das Grab von Fra Giambattista zu finden und mehr über ihn zu erfahren, falls dies für sie möglich war. Sie wartete, bis die meisten Mitglieder der Bruderschaft weggegangen waren, dann näherte sie sich einem der Mönche, der den Besuchern als Führer gedient hatte. »Por favor, habla inglés?«
»Lo siento, hermano, no« , antwortete er und schüttelte seinen Kopf. Er wandte
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