Die Seelenquelle
Beccaria sind!«
ZEHNTES KAPITEL
S ie sind es, nicht wahr?«, behauptete Wilhelmina abermals; sie wurde sich immer sicherer, dass sie recht hatte. »Sie sind Fra Giambattista.«
»Jetzt machen Sie sich selbst lächerlich, junge Frau«, spottete er. »Was für eine verrückte Vorstellung!« Er stieß ein unterdrücktes, leises Lachen aus. »Vollkommener Blödsinn.«
Wilhelmina sagte nichts. Sein Widerspruch wirkte gekünstelt, und seine zuvor schöne, wohltönende Stimme klang nun näselnd und angespannt.
»Allein die Idee ist grotesk«, polterte er kopfschüttelnd. »Absurd.«
»Warum?«, fragte Wilhelmina. »Warum ist sie absurd?«
»Bruder Beccaria lebte vor langer Zeit in Italien. Wenn er heute noch am Leben wäre, würde er …« Er hielt inne, um eine grobe Berechnung anzustellen. »Nun, es ist jedenfalls unmöglich.« Der Mönch machte eine wegwerfende Handbewegung und gab Geräusche von sich, die wohl ein heiteres Kichern darstellen sollten. »Grotesk. Junge Leute sind so leichtgläubig.«
»Dennoch höre ich nicht, dass Sie es eindeutig bestreiten«, bemerkte sie. »Warum sagen Sie es nicht?«
»Ich bestehe darauf, dass Sie jetzt weggehen, bevor wir beide etwas sagen, das wir beichten müssten.«
»Mein Gewissen ist rein«, erklärte Wilhelmina. »Gibt es vielleicht etwas, das Sie gerne beichten würden?«
Der Priester wurde sehr still. Dann erhob er sich wieder langsam auf die Füße, blieb kurz stehen und kehrte sich ihr zu, um ihr ins Gesicht zu blicken. Er musterte eingehend die Frau, die vor ihm stand; seine Augen glitten über ihr Gesicht und ihre Gestalt. »Wer sind Sie?«, fragte er schließlich.
»Ich heiß Wilhelmina Klug«, erwiderte sie.
» Fräulein Klug, glaube ich. Trotz Ihrer gegenwärtigen Erscheinung vermute ich, dass Sie keine Nonne sind – und auch niemals eine waren. Habe ich recht?«
»Ich glaube, dass wir beide etwas anderes sind, als wir nach außen hin erscheinen.«
»Bitte seien Sie so höflich und geben Sie mir eine wahre Antwort. Sind Sie eine Ordensschwester?«
»Nein«, gestand Mina. »Ich bin … eine Reisende.«
»Eine Reisende.« Er zog ein Gesicht, als würde er ihre Behauptung ablehnen. »Sie sind unaufrichtig«, entgegnete er. »Eine Reisende – ha!«
Er hob eine Hand und streckte sie ihr entgegen. Wilhelmina glaubte, er hätte vor, sie abermals fortzuschicken, würde sich aber nun eines Besseren besinnen.
»Wie haben Sie von Fra Giambattista erfahren?«, erkundigte er sich.
»Ich habe die Abtei Sant’ Antimo in der Toskana besucht«, antwortete sie. »Dort sah ich seinen Namen auf einem Aushang. Einer der Brüder erzählte mir, Fra Giambattista wäre hier als Astronom eingestellt gewesen und auch hier begraben worden.« Sie blickte den Mann vor ihr abschätzend an. »Aber das ist nicht wahr. Es gibt kein Grab, weil er nie gestorben ist. In Wahrheit steht er hier vor mir.«
Auf dem runden, gutmütigen Gesicht des Geistlichen zeigten sich abwechselnd Verblüffung und Entsetzen, aber auch Erleichterung. »Aber wie könnte das möglich sein?«, fragte er; seine Stimme wurde bei diesen Worten immer leiser.
»Wie könnte es sein, dass Sie so alt sind«, entgegnete sie. »Oder wie könnte es sein, dass ich dies weiß?«
»Eines von beiden«, murmelte er und schwankte auf seinen Füßen nach hinten. »Beide.«
»Es ist möglich«, erklärte sie und trat einen Schritt näher. »Weil auch Sie ein Reisender sind – wie ich. Und wie bei mir sind Ihre Reisen nicht gänzlich auf diese Welt beschränkt.«
»Madre di Dio!« , rief er aus. Er schlug ein Kreuzzeichen vor seiner Brust und küsste seine wie zum Gebet ineinander verschränkten Hände. Ohne ein weiteres Wort eilte er zur Tür des Observatorium-Turms. Er legte seine Hand auf den Messinggriff und drückte die Tür auf. Wilhelmina erwartete, dass er vor ihrer Gegenwart fliehen und sie ausschließen würde. Aber während er ins Innere verschwand, gab er ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass sie ihm folgen sollte.
Sie stieg die Stufen hoch und betrat einen winzigen Vorraum: ein schmaler Gang, an dessen Ende zwei Türen waren, und eine Treppe, die zu den oberen Ebenen führte. Bruder Lazarus schritt zu der Tür auf der linken Seite des Ganges, öffnete und ging hinein. Wilhelmina folgte ihm in eine winzig kleine Küche mit einem einfachen Ofen, der mit Holz befeuert wurde, einem kleinen Schrank, einem rechteckigen Holztisch und vier Stühlen. Ein Fenster mit Vorhängen ermöglichte einen
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