Die Seelenquelle
sie in die Südpyrenäen bringen, und zwar einen Steinwurf entfernt von ihrem Bestimmungsort. Sobald sie dort war, würde sie sich als Nonne verkleiden, die sich auf einer Pilgerreise befand, und ihren Mentor ausfindig machen. Entsprechend seinen Wünschen und ihrem höchst feierlichen, heiligen Eid – er hatte sie dazu gebracht, auf einer handgeschriebenen Bibel zu schwören, weder seine Identität noch seinen Aufenthaltsort einem anderen Lebenden zu enthüllen – hatte sie zu niemandem auch nur ein einziges, leise gesprochenes Wort über die Existenz von Bruder Lazarus gesagt. Der vorsichtige Mönch war in der Tat eine echte Geheimwaffe für sie. Eine wunderliche Vereinbarung – doch sie kam ihnen beiden gelegen.
Den größten Teil der Kutschfahrt zum Dorf schlummerte Wilhelmina vor sich hin, sodass sie gut ausgeruht sein würde, wenn sie die nächsten Sprünge auf ihrer Reise in Angriff nahm. Doch im Endeffekt hätte sie sich darum nicht zu kümmern brauchen, denn sie erreichte ihr Ziel zu spät. Der Ley war inaktiv, und sie musste bis zum Sonnenaufgang warten. Von einem Bauern in der Nähe erbat sie sich ein Nachtlager in der Scheune. Und so verbrachte sie mit zwei Kühen, vier Enten und einem schwarz gefleckten Schwein eine angenehme, jedoch geruchsintensive Nacht.
Kurz vor dem Sonnenaufgang kehrte sie zum Ley zurück und vollzog den Sprung; auch die nächsten beiden erfolgten ohne Zwischenfall. Vor dem letzten Sprung legte sie allerdings eine Pause ein: Sie nahm eine Stärkung zu sich in einem kleinen Café an der Via Bassomondo, einer staubigen Straße, die sich am sanft abfallenden Berghang zur Abtei Sant’ Antimo hinabschlängelte. Sie befand sich, so glaubte sie, irgendwann im letzten Jahrhundert – vielleicht 1929? Wilhelmina vermochte es nicht genau zu erkennen. Ihr Italienisch beschränkte sich genau auf die Worte: Buongiorno, Signor Rinaldi! Un cappuccino e una brioche, per favore.
Sie trank ihren Kaffee und aß ihr Gebäck, wobei sie Vergleiche mit ihrem eigenen Getränk und Backwerk anstellte. Dann bezahlte sie die Rechnung aus ihrem kleinen Vorrat an Münzen, die sie bei ihren verschiedenen Reisen erhalten hatte. Anschließend spazierte sie zum nächsten Ley, der außerhalb der Abtei durch das Tal verlief. Dies hier war stets ihr Lieblingsabschnitt der Reise; und Mina verweilte hier oft eine kleine Weile, um sich an dem großartigen Anblick des Tals zu erfreuen, in dem es ausgedehnte Olivenhaine gab und das von Zypressen gesäumt war. Der Überlieferung nach war Kaiser Karl der Große in früheren Zeiten ein bedeutender Wohltäter der Abtei gewesen, und auf seinen verschiedenen Reisen von Rom zu seinem Palast in Aachen hatte er das Kloster oft als willkommenen Rastplatz genutzt.
Manchmal, wenn sie Zeit übrighatte, legte sie eine Pause ein und nahm die Abteikirche in sich auf: ein stattliches romanisches Bauwerk aus grobem weißem Kalkstein, das innen wie außen mit wunderschönen Bildhauerarbeiten geschmückt war. Wie bei so vielen Stätten, an denen sich nun Kirchen verschiedener Art befanden, war diese Stelle ausgewählt worden, weil es sich bereits um einen heiligen Ort gehandelt hatte, lange bevor die Errichtung der Abtei in Erwägung gezogen worden war. Dass sie ein Pilgerziel geblieben war, gereichte Wilhelmina zum Vorteil, denn die Mönche waren an Fremde in ihrer Mitte gewohnt und empfingen sie, so gut sie es nur konnten. Und so mischte sich Wilhelmina unter die Gäste und ihr allgemeines Kommen und Gehen, sodass ihr seltsames Auftauchen und Verschwinden vollkommen unbemerkt blieb. Viel wichtiger war jedoch, dass sie in Sant’ Antimo erstmals von dem Mann erfahren hatte, dem sie so viel verdankte, was ihre Klugheit und ihre Fähigkeiten beim Ley-Reisen anbelangte.
Und dies ist die Geschichte, wie es zuerst dazu kam, dass sie Bruder Lazarus kennenlernte und in seine Welt reiste:
Wilhelminas Experimente mit Burleighs erster Vorrichtung hatten ihr ein betriebsbereites Instrument an die Hand gegeben, das nicht nur aktive Ley-Linien erkennen, sondern auch zu ihnen hinführen konnte. Sie hatte mehrere Testsprünge durchgeführt: Zuerst war sie vorsichtig, manchmal sogar furchtsam, doch dann ging sie mit wachsendem Zutrauen vor, als sie ihre Erfahrungen sammelte. Hierbei begann sie mit einer Reihe von Einzelsprüngen, dann folgten ein paar Doppelsprünge, bevor sie zu den für sie sehr gewagten Dreifachsprüngen überging. Bei jedem dieser Experimente notierte sie den Ort eines Leys und
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