Die Seelenquelle
die Zeit, zu der er aktiv war, zudem prägte sie sich die Zielorte ein. Bei einem jener frühen Dreifachsprünge war sie in dem schönen italienischen Tal nahe Montalcino gelandet, und zwar auf einer schmalen, unbefestigten Straße, die an einer beeindruckenden alten Kirche und einem Kloster vorbeiführte. Das Datum in jener Welt war der 27. Mai 1972.
Mina, die von uralten Zypressen, gepflegten Feldern und einer kleinen Schafweide umgeben war, hatte den Eindruck, der Ort würde zu ihr sprechen: Sie fühlte sich zu ihm hingezogen und beschloss, sich durch ein wenig Sightseeing zu verwöhnen. Nachdem sie einen Bogengang mit schönen Bildhauerarbeiten passiert hatte, betrat sie den stillen Altarraum; in der kühlen Luft lag ein schwerer Weihrauchgeruch. Irgendwo in der Nähe des Altars, im vorderen Bereich des Presbyteriums mit der hohen Decke, ertönte eine kleine Glocke. Es gab ein paar andere Besucher, die leise und gedankenversunken durch die Gänge spazierten; und trotz ihrer altmodischen Kleider mischte sich Wilhelmina direkt unter sie. Als sie ihren ersten Rundgang durch die Kirche machte, stieß sie auf ein großes, handgemaltes Schild mit dem Grundriss des Bauwerks. Zudem gab es einen Text, der sowohl in Englisch als auch in Französisch und Italienisch war. Mina blieb stehen, um ihn zu lesen, und entdeckte, dass entsprechend einer Reihe von Messungen, die ein paar Jahre zuvor durchgeführt worden waren, nicht weniger als sieben eigenständige elektromagnetische Kraftlinien sich an einem Punkt treffen, der direkt unter dem Kirchenaltar liegt. Diese Kraftfelder waren keine Leys – zumindest nicht wie diejenigen, die Wilhelmina bislang kennengelernt hatte. Sie waren nicht gerade und kulminierten in einem einzigen Punkt – ganz anders als normale Ley-Linien. Auch wurde dieser Begriff in der bruchstückhaften englischen Übersetzung auf dem Schild nicht benutzt. Waren diese Kraftlinien hier etwas Ähnliches? Oder etwas vollkommen anderes?
Mina war entschlossen, alles in Erfahrung zu bringen, was sie über diese geheimnisvollen Linien aus tellurischer Energie herausfinden konnte, die unterhalb der Kirche flossen. Umgehend grüßte sie einen der Mönche, der seinen Angelegenheiten nachging, und fragte: »Scusi, padre. Parla Inglesie?«
»Sì, signora, a leetle.«
Sie zeigte auf das Schild, auf dem eine Karte mit den seltsamen Linien zu sehen war, und sagte: »Dieser Priester …« – sie tippte auf den Namen, der in ordentlichen Buchstaben unten auf dem Schild stand – »… Fra Giambattista Beccaria?«
»Fra Giambattista, Sì «, erwiderte der Mönch.
»Ist er hier? Kann ich mit ihm sprechen? Es ist vielleicht wichtig.«
»Nein, signora, ist nicht möglich. Fra Giambattista – er nicht länger bei uns.«
Mina runzelte die Stirn. »Er ist tot, wollen sie sagen.«
» Sì . Viele Jahre nun.«
»Kann ich sein Grab sehen?«
»Leider, signora. Ist in Abbazia di Montserrat, ich glaube.«
»Montserrat? Ist das weit?«
» Sì, signora. Ist in Spagna.«
Wilhelmina dankte dem Priester und erkundete weiterhin Sant’ Antimo. Als sie die Absperrung vor dem Altar erreichte, überkam sie eine Überzeugung, die so mächtig wie absurd war: die unwiderlegliche Gewissheit, dass das Wissen, das sie so verzweifelt benötigte, an einem Ort gefunden würde, von dem sie bis vor dreißig Sekunden noch nie etwas gehört hatte. Darüber hinaus brachte diese Überzeugung eine Forderung von solcher Dringlichkeit mit sich, dass sie auf die vordere Kirchenbank plumpste und auf das Licht starrte, welches durch die hohen, schmalen Fenster hinter dem atemberaubend lebensechten Kruzifix einströmte: In ihrem Kopf kreiste ein einziger Gedanke, nämlich dass sie alles andere aufgeben und auf schnellstmögliche Weise zum Kloster Montserrat gelangen musste.
Zu jener Zeit erstreckten sich ihre Fähigkeiten, Leys zu lokalisieren, noch nicht auf die Iberische Halbinsel. Da sie keine Fehler machen wollte, entschied sie, mit dem Zug zu reisen. In ihrer typisch pfiffigen Art gelangte Wilhelmina zu dem Entschluss, dass sie sich als eine deutsche Nonne zeigen würde, wenn sie schon ein spanisches Kloster besuchen musste. In Montalcino erwarb sie einen schlichten Rock und eine einfache Bluse, und zusammen mit einem Souvenirshop-Kreuz aus Olivenholz und einem sittsam angeordneten, taubengrauen Kopftuch stellte sie eine recht passable Ordensschwester dar – wenn auch eine von der modernen Sorte.
Bei ihrer Ankunft in Barcelona entdeckte sie ein
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