Die Seelenquelle
ägyptischen Hieroglyphenschrift zu knacken.«
»Er hört sich faszinierend an«, sagte Mina. »Du sagst, er lebt in London?«
»Richtig.« Der Mönch nickte. »Thomas Young ist ein höchst faszinierender Mann.« Dies war das erste Mal, dass Wilhelmina von Dr. Thomas Young hörte. Es würde nicht das letzte Mal sein.
ELFTES KAPITEL
I ch stimme zu, dass es irgendwie ein sonderbarer Zufall ist«, räumte Lady Fayth mit Bedacht ein. »Andererseits, warum sollte diese Bäckerin nicht dort hingehen, wohin sie möchte?«
»Ich finde es höchst verdächtig«, erklärte Burleigh. »Am Abend, an dem sie unsere Einladung zum Abendessen erhält, rafft sie sich auf und flieht aus der Stadt. Zufall? Das glaube ich nicht.«
»Man kann von ihr kaum behaupten, dass sie aus der Stadt geflohen ist«, entgegnete Haven in sanftem Tonfall. »Der Bäcker hat gesagt, sie hätte Geschäftliches in Wien zu erledigen. Da ist nichts Seltsames an einer Geschäftsfrau, die aus beruflichen Gründen verreist. Einige würden sagen, dass solch eine Zufälligkeit eine unvermeidbare Folge ihres Gewerbes ist.«
Burleighs Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Warum ergreift Ihr stets ihre Partei?« Seine Stimme klang finster; seine Worte waren eindeutig eine Anspielung.
»Wegen der Art und Weise, wie Ihr sprecht.« Haven stieß einen leichten Seufzer aus und rollte ihre hübschen braunen Augen. »Ich ergreife nicht Partei – für keinen, mein argwöhnischer Lord. Ich betone nur die Torheit Eures Beharrens, selbst die vollkommen unschuldigsten Geschehnisse als Teil irgendeiner riesigen Verschwörung zu sehen, um Eure Pläne umzustoßen.«
»Hütet Eure Zunge, Mädchen!«, knurrte der Earl böse und starrte sie wütend an. »Ich bin es langsam leid, über jeden Schritt, den ich unternehme, mit Euch zu streiten.«
Haven wusste, dass sie ihm in dieser Angelegenheit mehr als genug zugesetzt hatte. Es war Zeit für eine Wiedergutmachung. »O, mein Teurer, ich habe Euch verärgert«, sagte sie reuevoll. »Es tut mir leid.« Sie senkte ihren Kopf in einer unterwürfigen Geste. »Euch zu beleidigen war das Letzte, was ich beabsichtigt habe.«
»Hinaus!«, schrie er. »Ich kann nicht denken, wenn Ihr ein einfältiges Lächeln wie dieses zeigt. Geht aus dem Zimmer, bis ich Euch rufe. Ich will entscheiden, was nun zu tun ist.«
Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und schritt zur Tür. Sie war froh, der schlechten Laune des Schwarzen Earls zu entfliehen.
»Glaubt ja nicht, dass ich Eure Unverschämtheit vergessen werde!«, rief er ihr hinterher.
»Nein, Mylord«, erwiderte sie und schloss die Tür hinter sich. Dann sagte sie zu sich selbst. »Ich glaube, du wirst bald einen Grund haben, dich noch lange daran zu erinnern.«
Mit erhobenem Kopf stolzierte sie den Korridor hinunter. Sie kochte vor Wut: wegen Burleigh; wegen der niederträchtigen Umstände, die sie zwangen, sich wie eine verkommene Dirne zu verhalten; wegen der Schuldgefühle, weil sie ihren Onkel und die anderen zum Sterben im Grabmal zurückgelassen hatte – Wut wegen der Machtlosigkeit und Demütigung, die sie jeden Moment fühlte, wenn sie nicht gerade schlief. Es war schlimm genug, dass man sie in eine Anstifterin von Komplotten und in eine Ränkeschmiedin verwandelt hatte: Dies war der Preis, den sie dafür bezahlte, dass sie sich der großen Suche angeschlossen hatte – so sei es also. Doch dass sie mit dem Rohling reisen musste und dabei von allen als seine Vertraute, ja sogar als seine Geliebte gesehen wurde … Bereits beim Klang seiner Stimme, bei seinem hochnäsigen Verhalten und beim Anblick seiner gut aussehenden Gesichtszüge, die man bei einem besseren Mann wohl bewundert hätte, drehte sich ihr der Magen um.
Die Vortäuschung von Gehorsam lag schwer auf ihr. Sie hasste diesen abscheulichen Mann und sein bestialisches Verhalten, und es war inzwischen nahezu unmöglich für sie, in seiner Gegenwart ihre Zunge in Zaum zu halten. Burleigh selbst spürte, dass bei ihr nicht alles so war, wie es zu sein schien. Bald, wenn nicht bereits jetzt, würde er die Entscheidung treffen, ihre Partnerschaft aufzulösen; und sie würde dann ein weiteres Opfer seines unersättlichen Ehrgeizes werden.
Abgesehen von dem Wunsch, einfach zu überleben, hatte sie gehofft, von ihm zu lernen – oder zumindest seine Methoden, Pläne und höchsten Ziele in Erfahrung zu bringen. Doch außer Burleighs Besessenheit von der Meisterkarte hatte sie sehr wenig erfahren. Sie wusste immer noch
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