Die Seelenquelle
derbe Gärtnerhand auf Wilhelminas Finger und vertraute ihr an: »Geduld ist immer eine Tugend gewesen.«
Wilhelminas erster Besuch dehnte sich auf mehr als zwei Wochen aus. Etwa jeden zweiten Tag traf sie sich mit Bruder Lazarus im Klostergarten, um irgendeinen bestimmten Aspekt des Ley-Reisens zu besprechen – seine Anwendungen ebenso wie die dazugehörigen Probleme und Folgen. Der Mönch erwies sich als ein fürsorglicher und gebildeter Lehrer; sein Studium der Astronomie und Physik umfasste sowohl Kosmologie und Philosophie, und da er Priester war, auch die Theologie. Als geduldiger und kompetenter Lehrer war er unübertroffen; und Wilhelmina, die eifrige und willige Studentin, stand bald fest unter seinem Bann. Seine Begeisterung, vermutete sie, rührte von der Tatsache her, dass er zuvor niemanden gehabt hatte, dem er seine größten Entdeckungen und Einsichten weitergeben konnte. In Wilhelmina hatte er zu guter Letzt jemanden gefunden, der nicht nur das Wunder seines Forschungsabenteuers in all seinen Tiefen verstand, sondern auch daran teilnehmen konnte. Und da Minas Erfahrungen im Ley-Reisen – die sie freilich auf eine undisziplinierte Art gewonnen hatte – in ihrer Weise nicht weniger ausgedehnt waren als seine eigenen, vermochte sie ihm zu helfen, seine Nachforschungen voranzubringen. Auch war es nicht der Sache abträglich, dass er sie aufrichtig mochte und Vergnügen an ihrer Gesellschaft fand.
Jene ersten vierzehn Tage vergingen wie im Fluge. Wilhelmina hätte viel länger bleiben können, aber das hätte unerwünschtes Misstrauen erzeugt. Stattdessen vereinbarten die beiden – die sich wie zwei Verschwörer fühlten –, dass Mina bald abreisen, jedoch im Frühjahr zurückkehren sollte. Dann würden sie Wilhelminas Ausbildung so weit fortführen können, dass sie schließlich in der Lage war, an Bruder Lazarus’ Arbeit mitzuwirken – die Kartografierung der sich schneidenden Dimensionen des Kosmos.
»Viele Leute gehen jedes Jahr auf eine Pilgerfahrt zum Kloster«, sagte er. »Deine Anwesenheit muss keinen Argwohn hervorrufen. Und wenn jemand fragen sollte, kannst du immer sagen, es sei die Erfüllung eines feierlichen Versprechens für ein erhörtes Gebet.«
»Das ist am Ende nichts weiter als die Wahrheit«, bemerkte Wilhelmina.
Der Tag ihrer Abreise kam, und sie nahm Abschied – jedoch nicht, ohne vorher zu erfahren, wo sich der nächste Ley befand und wie er mit Sant’ Antimo verbunden war. Dann erinnerte sie sich noch an eine wichtige Frage: »Was ist mit dem Kreis im Atrium, dem heiligen Ort? Ist das eine Ley-Schwelle?«
»Es gibt eine Kraft dort, die sehr stark ist«, antwortete der Mönch. »Ich habe sie gemessen, aber niemals den Versuch unternommen, mich ihrer zu bedienen. Ich glaube, sie ist instabil und unberechenbar. Sie muss weiter untersucht werden. Außerdem ist die Stelle dort zu öffentlich. Dennoch, diese Berge hier sind durch und durch von Kraftlinien durchzogen – oder von Leys, wie du sie nennst. Die Linie, die dem Observatorium am nächsten ist – die, die ich dir gezeigt habe –, mündet in Sant’ Antimo.«
»Und durch sie bist du das erste Mal hierhergekommen.«
»Genau.« Er hob mahnend einen Finger. »Benutze sie – doch benutze sie mit Umsicht. Wir können nie wissen, ob jemand zuschaut.«
Wilhelmina dankte ihm für seine Fürsorge und reiste ab. Im nächsten Frühjahr kehrte sie zurück und dann wieder im darauffolgenden Herbst: ein Muster, das so oft wiederholt werden sollte, bis sie ein vertrauter Anblick auf dem Klostergelände war. Ihre Freunde dort waren glücklich, wenn sie Mina sahen, die sich langsam in den Ort verliebte.
»Kennst du Thomas Young?«, fragte Bruder Lazarus sie bei jenem ersten Besuch. »Er ist ein Arzt in London. Haben sich eure Wege jemals gekreuzt?«
»Ich bin mir sicher, dass ich es wissen würde, wenn dies geschehen wäre«, antwortete sie. »Doch nein. Ist er auch ein Reisender wie wir?«
»Das ist mir niemals zu Ohren gekommen, doch es würde mich nicht überraschen. Seine Experimente im Jahre 1807 errichteten das Fundament, auf dem das Gebäude der Quantenphysik erbaut ist.« Bruder Lazarus fuhr fort, in einem fast ehrfürchtigen Tonfall über den Mann zu berichten, der die zweifache Natur des Lichts – als Teilchenstrom und als Wellen – entdeckt hatte. »Und als ob das noch nicht genug wäre, hat er außerdem geholfen, die Archäologie als Wissenschaft zu begründen, und 1814 gelang es ihm sogar, den Code der
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