Die Seelenquelle
nicht, was er wollte, warum er sich so antrieb, was er für sich zu gewinnen erhoffte durch seine rücksichtslose Ausnutzung aller Menschen, die ihm auf seinem Weg begegneten. Aber sie spürte, dass sie alles erfahren hatte, was er ihr lehren wollte. Jetzt, wo sie in dem abgedunkelten Gang stand und auf die Tür zu ihrem Zimmer in diesem stinkenden, verwanzten Gasthaus starrte, wusste sie, dass sie am Ende ihrer Geduld war.
Das Gasthaus – das großartigste, das Prag anzubieten hatte – war unerträglich. Der Gestank, der Lärm und die schmutzige Umgebung geziemten sich nicht für eine Lady ihres Standes. Sie weigerte sich, auch nur noch eine weitere Nacht damit zuzubringen, den Katzen unterhalb ihres Fensters zuhören zu müssen, wie sie den Straßenabfall durchwühlten. Und sie wollte nicht mehr den betrunkenen, schnarchenden Schläfern in den Räumen beiderseits ihres Zimmers zuhören müssen und den Inhalt von Nachttöpfen riechen, wenn sie in der Gosse ausgeschüttet wurden.
Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, zog sie sich aus und legte ihre Reisekleider an. Sie nahm nur noch ihren Mantel mit, als sie aus dem Zimmer schlich. Sobald sie den Gang durchquert hatte, glitt sie wie eine Elfe die Treppe hinunter. Auf Zehenspitzen huschte sie durch den Hausflur des Gasthauses und riskierte einen Blick in den Gemeinschaftsraum, wo sie Burleigh erblickte. Er saß immer noch dort, wo sie ihn verlassen hatte, und brütete vor sich hin, während neben seinem Ellbogen ein Getränk stand. Haven trat zum Eingang. Ein letztes Mal schaute sie sich um und sah, dass sie unbemerkt geblieben war. Danach ging sie fort.
Sie schritt durch die Straßen von Prag, stieg den Palasthügel in Richtung Altstadt hinunter und sah, wie sich hinter dem großen Platz die Stadtmauern erhoben. Die Sonne war bereits untergegangen, doch am Himmel schimmerte noch Licht. Sie hoffte, dass es beim Verlassen der Stadt keine Schwierigkeiten geben würde; auch hatte sie kein Interesse daran, irgendwelche Augenzeugen zu hinterlassen, die später vielleicht befragt würden. Dies – ebenso sehr wie die Tatsache, dass ihr Deutsch in keiner Weise gut genug war, um sich für neugierige Wachen eine plausible Geschichte zurechtzulegen und sie überzeugend vorzutragen – führte dazu, dass sie sich für eine andere, etwas weniger wünschenswerte Vorgehensweise entschied. Sie würde sich ganz einfach im Schatten der Tore aufhalten, bis ein abfahrendes Fuhrwerk oder eine Kutsche hindurchrumpeln würde. Dann würde sie das Gefährt benutzen, um vor dem Blick anderer geschützt zu sein, dabei durch die Tore schlüpfen und dann in der Landschaft verschwinden.
Als sie sich dem Torhaus näherte, verlangsamte sie ihre Schritte und hielt sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Sie beobachtete die Vorgänge und versuchte den Aufenthaltsort der Wachen festzustellen. Sie fand eine enge Gasse in Sichtweite des Tors, schlich hinein, hockte sich hinter einer Regentonne auf eine umgestürzte Kiste und lehnte sich zurück, um auf ihre Chance zu warten. Kurze Zeit später vernahm sie das Geklapper von Pferdehufen auf Pflastersteinen. Sie erhob sich von ihrem Sitz und schlich zur Gassenmündung. Auf jeder Seite der beiden großen Holztüren, von denen eine offen stand, waren die Fackeln entzündet worden. Der Fahrer eines Wagens, der mit Fässern beladen war, verhandelte gerade mit den Wachen, damit sie auch die andere Torhälfte öffneten und das Fuhrwerk durchließen. Haven fasste sich ein Herz und flitzte aus ihrem Versteck. Sie rannte entlang des kastenförmigen Gefährts, gerade als der Fahrer mit den Zügeln schnalzte und die Pferde laut aufforderte, sich in Bewegung zu setzen.
Haven und der Wagen passierten zur selben Zeit das Tor und gelangten auf die Straße. Soweit sie hatte erkennen können, war sie weder von den Torwächtern noch von irgendjemand anderem gesehen worden. Sie warf noch einen letzten Blick über die Schulter zurück und überzeugte sich davon, dass sie tatsächlich frei war. Dann drehte sie sich um und eilte zu dem Ort, wo sie abspringen konnte – der Stelle, die Burleigh benutzte, um Prag zu erreichen. Sie hatte sich den Standort fest ins Gedächtnis eingeprägt und keine Schwierigkeiten, ihn wiederzufinden.
Nach einem flotten Marsch durch die kalte graue Landschaft gelangte sie zu einer abgelegenen Stelle in den Hügeln nördlich der Stadt. Dort gab es inmitten von Rübenäckern eine außergewöhnlich gerade Vertiefung in der
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