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Die Seelenquelle

Die Seelenquelle

Titel: Die Seelenquelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen R. Lawhead
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Erde: ein flacher Graben, der die Grenze zwischen zwei Feldern markierte. Dies waren uralte Strukturen, wie sie wusste. Ihr Onkel hatte sie Heilige Wege genannt, und sie waren älter als die Bauernhöfe und Felder, deren Grenzen sie kennzeichneten. Sie sind so alt wie die Hügel selbst , hatte Sir Henry erklärt.
    Bei dem flüchtigen Gedanken an ihren geliebten Onkel verspürte Haven erneut ein stechendes Schuldgefühl, weil sie ihn im Stich gelassen hatte. »Es tut mir so leid, Onkel«, murmelte sie; dann schob sie das Gefühl beiseite. Von nun an würde das Verlangen nach Rache sie antreiben, entschied sie. Sie würde den Tod ihres Onkels rächen und den Schwarzen Earl bestrafen für seine unnötige Grausamkeit und für die Demütigung, die er ihr zugefügt hatte.
    Am östlichen Himmel leuchteten die Sterne, als Haven den Ley erreichte. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, rannte sie über das tief gefurchte Feld zu dem Heiligen Weg. Dort angekommen, trat sie hinunter in den Graben und richtete sich an einem der Steine aus, die als Feldbegrenzungen dienten. Sie stellte sich in der Mitte des Pfades hin und begann, den schmalen Weg entlangzuschreiten. Nach vier beherzten Schritten spürte sie das vertraute Kribbeln auf ihrer Haut. Eine Windböe wehte über die Grabenränder und wirbelte um ihren langen Rock herum. Nach drei weiteren Schritten erreichte sie den nächsten Markierungsstein. Die Ränder des Heiligen Weges wurden unscharf. Das Zwielicht der Abenddämmerung verdunkelte sich, und sie spürte, wie unter ihren Füßen der Pfad wegfiel. Einen Moment lang hörte sie nur das heulende Kreischen der Leere, und nebliger Regen spritzte ihr ins Gesicht und in den Nacken. Als inzwischen erfahrenere Ley-Springerin war sie auf den scheußlichen Ruck vorbereitet, als unter ihren Füßen der Pfad hochkam; die Bodenhöhe war diesmal ein wenig höher. Sie federte den Stoß in ihren Knien ab, sodass es ihr gelang, aufrecht stehen zu bleiben. Dann ging sie zwei weitere Schritte, hielt an und schaute sich um.
    Die Welt um sie herum hatte sich verändert. Die sanften Hügel und gepflügten Felder in Böhmen waren verschwunden, und an ihrer Stelle befand sich eine kühle, nebelbedeckte Wildnis aus breiten Tälern und baumlosen Höhen. Es war ein wenig wie Yorkshire, dachte sie. Doch es war nicht Yorkshire – zumindest nicht das Yorkshire, das sie kannte. Burleigh behauptete, dass es wie so viele andere Welten lediglich ein Verbindungsort, eine Zwischenstation, von einer zur anderen Dimension des multidimensionalen Universums war. Zwei weitere Sprünge würden sie nach England zurückbringen.
    Haven hatte keinerlei Zweifel, dass sie nach London gelangen konnte. Doch es gab eine gewisse Unsicherheit, den Sprung genau richtig einzuschätzen, um die gewünschte Zeit zu erreichen. Ohne die ausgesprochen nützliche Hilfe durch die kleine Vorrichtung des Schwarzen Earls würde sie ihren eigenen Sinnen vertrauen müssen. Gleichwohl war sie glücklich, dass ihr die Flucht gelungen war und sich nun zu guter Letzt selbst zu gehören.
    Die nächste Ley-Linie befand sich in einiger Entfernung: in einem Hochland mit vielen Mooren. Sie war fast eine halbe Tagesreise zu Fuß entfernt, und da es sich um eine öde, menschenleere Landschaft handelte, blieb einem nichts anderes übrig, als zu gehen. Sie brach sofort auf und versuchte, so schnell wie möglich voranzukommen. Wahrscheinlich würde sie auf den Sonnenuntergang warten müssen, sobald sie dort war. Doch sie würde lieber warten, als diesen Zeitpunkt zu verpassen und die Nacht draußen in der trostlosen Moorlandschaft verbringen zu müssen.
    Während sie marschierte, stellte sie sich in Gedanken vor, was sie tun würde, wenn sie nach London kam, und wie sie vorgehen könnte, um die große Suche nach der Meisterkarte voranzubringen. Dies konnte sie eindeutig nicht alleine bewältigen. Zweifellos hätte sie mit Wilhelmina Pläne schmieden sollen, um ihre Verbündete in London zu treffen. Jetzt, wo sie daran dachte, wurde ihr klar, dass dies die perfekte Lösung gewesen wäre: Sie hätten Burleigh aus dem Weg gehen und ihr Bündnis festigen können. Doch aufgrund der Dringlichkeit, aus Prag herauszukommen, hatte keiner von ihnen daran gedacht.
    Es war bereits spät am Tag, als sie den Ley erreichte – ein namenloser Weg oben auf einer breiten Landzunge, wo zwei Täler oberhalb eines grauen Flusses zusammentrafen. Sie fand einen Stein neben dem Pfad und setzte sich nieder, um zu

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