Die Seelenquelle
die Landschaft vertraut aus; doch als sie sich auf einen Felsvorsprung stellte, der ihr eine gute Aussicht auf ein breites Tal mit üppiger Vegetation und einem kleinen Dorf bot, das aus strohgedeckten Hütten bestand, machten das Fehlen befestigter Straßen und Autobahnen ihr eines bewusst: Falls dieser Flecken Erde tatsächlich irgendwo in der Nähe von London war, dann musste in dieser Welt der Tag, an dem der Verbrennungsmotor erfunden wurde, erst noch heraufdämmern. Augenblicklich drehte sie sich um und ging zurück, bevor der Ley sich schloss – und versuchte es erneut.
Alles in allem benötigte sie zwei Tage und nicht weniger als sieben Sprünge, bevor sie zufällig auf die Gewinnformel stieß: ein Yard für alle vierhundert Jahre – oder so ungefähr. Sie fand heraus, dass man Englands Hauptstadt in einer bestimmten Epoche anpeilen konnte, wenn man die Strecke mit Schritten ausmaß und den eigenen Fortbewegungsrhythmus für den Sprung sozusagen anpasste. Nachdem sie dies erkannte, brachte der siebte Versuch sie in einen geeigneten modernen Zeitabschnitt.
Das Geräusch der Windböe ebbte ab und vermischte sich mit dem Heulen einer Krankenwagensirene, die in der Ziegelsteinschlucht des Stane Way widerhallte. Die Gasse sah vertraut aus, und sie fühlte sich überaus ermutigt. Doch es blieb noch festzustellen, wann genau sie angekommen war. Aber dieses Geheimnis klärte sich in dem Moment, als sie die Gasse verließ und die Grafton Street betrat. Ein Bus, auf dem eine Werbung für Handys von Virgin Mobile prangte, war das erste Gefährt, das an Mina vorüberfuhr. Ihm folgte rasch ein Van der British Telecom, auf dem dieses Unternehmen seine schnelle 30-MB-Verbindung für den monatlichen Preis von sechzehn Pfund anpries.
»Ich hab’s geschafft!«, trällerte Wilhelmina. »Ich hab’s tatsächlich geschafft!« Sie zitterte zu gleichen Teilen vor Aufregung und Furcht angesichts der Aussicht, zu ihren alten Lieblingsorten zurückzukehren. Dann begann sie, die Grafton Street entlangzugehen. Während sie vorwärtsschritt, geriet sie ins Taumeln aufgrund des Überfalls auf ihre Sinne, der mit roher Gewalt erfolgte. Alles, was ihr in der Stadt ins Auge sprang, sah für gewöhnlich grellbunt und protzig aus, und die Geräusche waren schrill und verwirrend: Alles plärrte, schrie und stand im Wettstreit gegen andere, um Minas Aufmerksamkeit zu gewinnen. Nach dem relativen Frieden einer weniger mechanisierten Zeit schien die moderne Gangart der Welt eine Tortur zu sein – es war zu laut, zu schnell, zu grob. Sie hatte den Eindruck, einen Hindernisparcours voller unnötiger Schocks und Alarme zu durchlaufen.
Wohin auch immer sie schaute, schien der Anblick dazu bestimmt zu sein, einen Schlag zu versetzen. Ein tiefergelegtes schwarzes Auto mit dunkel getönten Scheiben kreuzte auf, und aus ihm dröhnten hämmernde Bässe, die nur dazu gedacht waren, andere zu belästigen. In die entgegengesetzte Richtung zischte ein Motorrad vorbei, das brummte wie eine überdimensionale Hornisse. Der Bürgersteig wimmelte von Französischstudenten, die zueinanderpassende orangefarbene Rucksäcke trugen und in unorganisierten Scharen wie vielköpfige Amöben vorbeitrieben. Ein Hochhaus, das einer Sanierung unterzogen wurde, war ein ausgeschlachteter Lärmkasten, aus dem das Rattern von Presslufthämmern und Dieselgeneratoren hallte, die oben die Luft mit einer gesundheitsschädlichen Verunreinigung aus lautem Knattern in hohen Dezibelgraden und aus blauen Abgasen belasteten. Und die Schilder in den Schaufenstern von Geschäften kreischten in fluoreszierenden Lettern Sale! und Tiefstpreise! Alles muss raus!
Dennoch … und dennoch … Diese Straßen waren genau so wie diejenigen, an die sie sich erinnerte: Straßen, in denen sich der Verkehr wälzte, die vor Werbung nur so starrten und in denen sich scharenweise die selbstvergessenen Fußgänger drängten – sie waren ganz auf die Verfolgung ihrer eigenen privaten Agenden fixiert, während sie vorbeimarschierten. Die trostlose Silhouette grauer Apartmentblöcke, der triste Himmel, der von den Kondensstreifen dröhnender Düsenflugzeuge kreuz und quer durchzogen wurde, die Abfälle und der Unrat im Rinnstein, das Surren und Schieben auf einer geschäftigen Straße in einer Metropole – all das war genau so, wie es immer gewesen war. Komisch, zuvor hatte sie niemals die beiläufige Brutalität dieses Alltags bemerkt. Nun … jetzt fiel es ihr auf, sie mochte es nicht.
Der Angriff
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