Die Seelenquelle
Handbewegung wies er auf den Leichnam seines Freundes und sagte etwas, das Benedict nicht verstehen konnte. Der junge Mann schüttelte den Kopf, woraufhin Anen ihn bei der Hand nahm und ihn zum Bett führte. Dann legte er Benedicts Hand auf die Leiche seines Vaters und hielt sie dort fest. Der Körper fühlte sich jetzt kälter an.
Anen sprach erneut; seine Stimme war leise vor Gram. »Wir haben versucht, ihn zu heilen, doch es sollte nicht sein. Seine Seele hat das Haus der Toten betreten und die Reise ins Jenseits angetreten.« Er zeigte auf den Leichnam im Bett und schien eine Antwort zu erwarten.
Benedict starrte auf die leblose Gestalt. Die Transformation hatte begonnen; die beseelte Gegenwart des Vaters, die er sein ganzes Leben lang gekannt hatte, war nicht mehr länger da. Nur eine Hülle war zurückgeblieben: eine sehr traurige und verletzte Hülse. Der Mann, den er kannte und den er liebte, war dahingegangen.
FÜNFZEHNTES KAPITEL
W ilhelmina genoss ihre Besuche im Kloster von Montserrat und sah ihnen mit einer Vorfreude entgegen, die bei Weitem jede Erwartung übertraf, die sie für die Reise oder den Zielort selbst hegte. In gewisser Hinsicht erinnerte es an das Gefühl, das sie als Schulmädchen in der Nacht vor dem jährlichen Schulausflug zum Britischen Museum gehabt hatte, einem Ort, den sie liebte. Oder vielleicht war dies die Art und Weise, wie ein Pilger empfand, wenn nach Wochen oder Monaten der Vorbereitung endlich der Tag kam, an dem er den Wanderpfad betrat, der zu einem heiligen Bestimmungsort führte. Vielleicht war es ja cum grano salis das, was sie war – eine Pilgerin.
Nur daran zu denken, mit Bruder Lazarus an seinem Küchentisch im Observatorium hoch oben auf der Bergspitze zu arbeiten, ließ Wilhelminas Herz genau jenes kleine bisschen schneller schlagen. Dies geschah auch, wenn sie sich daran erinnerte, wie sie seinen herben Wein schlürfte und bei den Versuchen, die Geheimnisse des Ley-Reisens zu enträtseln, mit ihm über Astronomie, Kosmologie und Physik redete. Sie hatte ihn gefunden – oder war zu ihm geführt worden, wie er beharrlich behauptete –, um ihre Ausbildung für die Arbeit voranzubringen, für die sie bestimmt war. Stets war sie überbeansprucht und herausgefordert in seiner Gegenwart, die aber ebenso sehr angenehm war: Er war der weise väterliche Lehrer, den sie zuvor nie gehabt hatte.
Und bei einem dieser frühen Besuche geschah es, dass eine besondere Entscheidung getroffen wurde: Als eine Überprüfung von Bruder Lazarus’ Theorie der Zeit-Kalibrierung zwischen wechselnden Dimensionen sollte Wilhelmina nach London zurückkehren, um Kit zu finden und um, wie sie es ausdrückte, ihre Angelegenheiten abschließend zu ordnen. Abgesehen von der Erklärung, was ihr bei jenem ersten unüberlegten Sprung passiert war, wollte sie ihm sagen, dass er sich nicht um sie zu sorgen brauchte und sie ihr Glück gefunden hatte: Es bestand darin, dass sie nun ein Kaffeehaus in Prag leitete und im siebzehnten Jahrhundert ein besseres Leben führte, als sie es jemals im einundzwanzigsten Jahrhundert gekannt hatte. Und ganz nebenbei wollte sie auch erwähnen, dass ihre einstige romantische Verbindung – welcher Art sie auch immer gewesen sein mochte – nun unwiderruflich durchtrennt war. Viel Zeit war vergangen, bedeutsame Geschehnisse hatten sich ereignet, und als Folge davon waren sie beide nicht mehr länger die Personen, die sie ehedem gewesen waren. In selbstloser Weise und großmütig, mit jedem nur denkbaren Segenswunsch für sein zukünftiges Glück, befreite sie ihn von jeder – ob realen oder eingebildeten – Art von Verbindung mit ihr, die er möglicherweise fühlte. Für diesen letzten Teil studierte sie verschiedene Szenarios ein, die alle mit einem tränenüberströmten, kummervollen Kit endeten, der von ihr Abschied nahm, während sie mit gestrafften Schultern und hocherhobenem Kopf für immer aus seinem Leben trat.
Die unvermeidliche Auflösung dieser Beziehung geschah nicht aufgrund irgendeines Verlangens nach Rache oder negativer Gefühle gegenüber Kit. Sie trug ihm in keinerlei Hinsicht etwas nach – genau das Gegenteil war in Wirklichkeit der Fall. Sie war ihm zutiefst dankbar dafür, dass er sie in die Wunder des Ley-Reisens eingeführt hatte, auch wenn dies zufällig geschehen war. Und jeder Ärger und jede Verbitterung, die sie ursprünglich gefühlt hatte – und es gab viele solcher Empfindungen in jenen ersten traumatischen Tagen –, war
Weitere Kostenlose Bücher