die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
sie gegangen waren, schob Rhia einen Stuhl neben das Bett und setzte sich. Dorius sah ihren Bewegungen zu, ohne ein Wort zu sagen. Seine blasse Haut und seine tiefen Augenringe ließen ihn so zerbrechlich wirken wie seinen Geist, den Schmetterling. Jetzt, da sein Sohn Jano verheiratet war und ein eigenes Kind hatte, hätten Dorius’ Gaben der Verwandlung in die dritte und letzte Phase eintreten sollen, bis zu dem Punkt, an dem er seinen geschundenen Körper erneuern konnte. Doch die Krankheit schwächte ihn zu sehr, als dass seine Magie wirken könnte, weder für sich selbst noch für andere.
„Ich habe Galen gebeten, dich zu bringen.” Die Stimme von Dorius war kaum mehr als ein Flüstern, als wäre sie ihm auf die andere Seite vorausgegangen und hätte nur einen Geist ihrer selbst zurückgelassen. „Es tut mir leid, wenn es dir Angst macht.”
Rhia schüttelte den Kopf, aber sie merkte selbst, wie leicht ihre Lüge zu durchschauen war.
Er legte eine schlaffe Hand auf ihre. In ihr war nur noch eine Spur Wärme, so wie in abgestandenem Badewasser. „Mein Bruder sagt, du wüsstest es.”
Tat sie das? Eine Wolke legte sich über ihr Bewusstsein. „Was glaubt Ihr, was mit Euch geschehen wird?”, fragte sie ihn.
Er lehnte seinen Kopf zurück. Graues und braunes Haar breitete sich über das Kissen aus und berührte seine Schultern. „Ich werde nie mehr sein, was ich war”, sagte er und sah an die Decke.
Rhias Herzschlag beschleunigte sich. Die Tiere, die sie besuchte, beschwerten sich nie darüber, alt oder krank zu werden. Sie hatten nur vor Schmerzen Angst, nicht vor dem Tod. Während ihrer eigenen Krankheit hatte sie mit aller Macht um das Leben gekämpft. Jeder erfolgreiche Atemzug erfüllte sie mit unsicherem Dank. Hier lag ein Mann vor ihr, der den Willen zu leben verlor. Nicht weil er leiden musste, sondern aus Stolz.
„Natürlich nicht!” Sie versuchte, nicht allzu hart zu klingen, aber die Worte flössen aus ihr heraus wie eisiges Wasser. „Wir sind nie, was wir einst gewesen sind. Wir werden geboren. Wir leben, und wenn wir Glück haben, werden wir alt. Dann sterben wir.” Ein anderer schien durch sie zu sprechen.
Schockiert starrte Dorius sie an, doch sie fuhr fort. „Versteht Ihr nicht? Jedes Mal, wenn wir uns verändern, ist es wie sterben, selbst wenn unsere Körper kräftig bleiben. Manchmal müssen wir die Person, die wir gewesen sind, hinter uns lassen.” Sie drückte seine kalten Finger. „Dorius, Ihr solltet das vor allen anderen verstehen. Wir können nicht ewig Raupen sein.”
Er runzelte die Stirn. „Ich weiß, dass ich kein junger Mann mehr bin. Ich bitte nicht darum, wieder jung zu sein. Ich will nur nicht ...”
„Nutzlos sein?”
Als er sie ansah, blitzten seine Augen verständig auf. „Ich bin Perra eine Last. Ich kann mich nicht um die Schafe kümmern, ich kann nicht einmal meinen eigenen Enkel hochheben. Und meine Magie ist fort.”
„Aber Ihr seid es nicht.”
„Was meinst du damit?”
„All diese Dinge – Ehemann, Großvater, Schäfer, Magiebeschwörer -, sie sind wie ... die Biegungen eines Flussufers.”
„Das verstehe ich nicht”, sagte Dorius.
„Sie geben dem Fluss Form und bestimmen seinen Weg. Aber das Wasser selbst bleibt gleich, egal, woran es vorbeifließt und was es zurücklässt. Unter allem, was man anzieht und ablegt, bleibt eine Sache immer unverändert: die Seele.” Sie berührte seinen Arm. „Die Seele des Schmetterlings.”
Rhia setzte sich in dem Stuhl zurück und fragte sich, was die Quelle dieser Worte gewesen sein mochte. Sie dachte schon seit Jahren über diese Dinge nach, besonders während ihrer Krankheit hatte sie das getan, doch bis jetzt hatte sie sie niemals ausgesprochen.
Endlich erwiderte Dorius: „Dann liegt es also an mir, nicht wahr?”
„Ja.” Rhia stand auf. Ihr zitterten die Beine. „Jetzt erhebt Euch.”
Er sah sie fassungslos an. „Das kann ich nicht.”
„Tut es.” Ihre Stimme bebte. Sie war es nicht gewöhnt, Erwachsenen Befehle zu erteilen, aber das war der einzige Weg, ihm das Leben zu retten.
Er deutete auf seine Beine. „Ich bin seit Monaten nicht gegangen.”
„Dann kriecht.”
Dorius begann, die Bettdecke zurückzuschlagen, doch dann zögerte er. „Wie lange bleibt mir noch?”
Rhia improvisierte, um ihre Unsicherheit zu überspielen. „Wenn Ihr im Bett bleibt, höchstens noch einige Tage. Wenn Ihr jetzt aufsteht, weiß ich es nicht. Diesen Pfad kann ich noch nicht sehen, weil Ihr
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