die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
schmerzerfüllt, wie damals, als Rhia krank gewesen war – und damals, das wurde ihr jetzt bewusst, hatte sie zum ersten Mal das Flügelschlagen gehört, das über die Landschaft ihrer Gedanken hinweggestrichen war.
Mayra streckte die Hand aus und strich Rhia eine ihrer rotbraunen Locken hinter das Ohr. Dann streichelte sie ihr mit dem Handrücken über die Wange. Ohne ein Wort zu sagen, stand sie auf und stellte die Schüssel mit dem Tuch auf den Tisch.
Anschließend schlurfte sie zu der Leiter, die zum Schlafboden führte, den sie sich mit ihrem Ehemann, Tereus, teilte, und kletterte hinauf.
Rhia schleppte ein schweres Holzscheit zum Herd und wuchtete es in die Flammen. Es fauchte und zischte wie eine Wildkatze, die in Bedrängnis geraten war. Als sie sich daran erinnerte, dass sie das Scheit noch vor ein paar Monaten genauso wenig hätte heben können wie ihr Haus, blinzelte sie es fast wohlwollend an. Auch wenn sie nie wieder so stark wie die anderen sein würde, ließen ihre Muskeln sie nicht länger im Stich. Sie taten nicht mehr so, als hörten sie nicht, was Rhias Wille ihnen befahl. Sie gehorchten, wenn auch widerwillig und langsam wie trotzige Kinder.
Seufzend wandte Rhia sich vom Feuer ab, legte sich hinter Boreas auf den Boden und schmiegte sich an seinen Rücken. Den Teppich aus Wolfshaut zog sie über sich und den Hund. Boreas stöhnte tief auf.
„Schlaf jetzt”, murmelte sie an der knotigen Erhebung seines Hinterkopfs. „Morgen früh wachst du wieder auf.”
Der Hund starb nicht. Er lebte noch zweieinhalb Jahre, bis Rhia fast elf Jahre alt war. Ein Rudel Wölfe versuchte, die Ponys von der Farm ihrer Familie in den Wald zu treiben. Und auch wenn er schon sehr betagt war, so war Boreas doch der erste der Hunde, der angriff und den Leitwolf tötete. Augenblicke später brach er unter der Anstrengung zusammen. Weil der Sommerboden zu trocken und hart war, um ein Grab zu schaufeln, bauten Rhia und ihre Familie gemeinsam für Hund und Wolf einen Hügel aus Steinen und sprachen dann ein Gebet zu Krähe, der beide Tiere sicher nach Hause führen sollte.
Rhias Vision musste irgendwie bekannt geworden sein, denn die Dorfbewohner begannen, das Mädchen einzuladen, um nach ihren kranken Hunden oder lahmen Ponys zu sehen. Sie wollte helfen, aber das Leid der Tiere machte sie traurig, und ihre Reisen auf die andere Seite erinnerten sie daran, dass sie als Kind fast selbst diesen Weg gegangen war.
Der bitterste Schlag kam, als Mayra, die Heilerin ihres Dorfes, sie nicht mehr mit in die Häuser von Patienten nahm. Während Rhias Kindheit hatten sie beide gehofft, dass der hebe, verspielte Otter auch sie berühren würde. Doch ein anderer Schutzgeist hatte sie erwählt – einer, der nicht das Leben umwarb, sondern das gefürchtete Gegenteil.
Eines Tages, nachdem Rhia gerade fünfzehn Jahre alt geworden war, kam Galen, der Anführer des Dorfrates, zu der Pferde- und Hundefarm ihrer Familie und mit ihm sein Sohn Areas. Es war ein kühler Spätnachmittag am Frühlingsanfang, als die Blätterknospen noch der Fantasie der Bäume zu entspringen schienen. Rhia reinigte gerade die Hundezwinger, als sie den Mann und den Jungen den steilen Hügel zu ihrem Zuhause hinaufkommen sah. Sie beeilte sich, das lange Haar zu ordnen und sich den Schweiß unter den Augen wegzuwischen. Vor Galen darf man nicht schlampig wirken, sagte sie sich und lächelte dann über den armseligen Versuch, sich selbst zu betrügen. Es war der Anblick von Areas, nicht von seinem imposanten Vater, der ihren Puls zum Rasen brachte und ihre Hände zittern ließ, bis sie sich fragte, was sie mit ihnen machen sollte.
Wann sie angefangen hatte, in Areas mehr als einen Spielgefährten aus der Kindheit zu sehen, vermochte sie nicht mehr genau zu sagen. Wahrscheinlich war es im vergangenen Monat geschehen, einen Augenblick bevor oder nachdem er sie hinter den Ställen geküsst hatte. Seit diesem Augenblick jedenfalls wurden ihr schon durch den bloßen Geruch nach Stalldung die Knie weich.
Rhia eilte auf das Haus zu, um nach ihren Eltern zu rufen, und blieb dann stehen, um noch einmal nach den zwei Männern zu sehen, denn etwas an ihnen war an diesem Tag anders. Ihre Schritte waren schwer, die gebräunten Gesichter wirkten ungewöhnlich ernst, die Köpfe waren geneigt, sodass sich das Sonnenlicht in ihren Haaren fing, die die Farbe von frisch bestellter Erde hatten. Das Haar von Areas reichte ihm den halben Rücken hinab, doch Galens strich nur über
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