die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
gesagt, du hast mich am liebsten.”
Ihre Stimme brach. Nilo?
„Schon besser.”
Aber du bist tot.
„Und das bedeutet, du bist...”
Oh.
Schwanger.
„Danke, dass du mich heimgesungen hast, als ich gestorben bin”, sagte Nilo.
Es tut mir leid, dass ich nicht aufhören konnte zu weinen. „Es hat mir mehr bedeutet, weil es so war. Außerdem mögen große Brüder es gern, kleine Schwestern zum Weinen zu bringen.”
Als der Gesang beendet war, setzten sich alle hin. Einer nach dem anderen priesen die Bewohner von Asermos ihre gefallenen Helden. Als Lycas an der Reihe war, stand er langsam auf und drehte sich der Menge zu.
„Nilo und ich haben uns einen Mutterleib geteilt, ein Heim, einen Geist. Wir hatten immer gehofft, uns auch ein Grab zu teilen.” Seine Stimme bebte vor Verbitterung. „Dieser Traum ist uns geraubt worden, und ich ... ich fühle mich, als hätte ich den größten Teil meines Selbst verloren, und der einzige Weg, ihn zurückzubekommen, ist, wieder und wieder zu töten. Aber der Feind hat mir auch das geraubt, als er geflohen ist.”
Nilo sprach in Rhias innerem Ohr. „Rache wird ihn nicht befriedigen. Egal, wie viele er tötet, es ist nie genug.”
Woher weißt du das?
„Ich besitze jetzt unendliche Weisheit.”
Und was soll er dann tun, um die Lücke zu füllen, die du hinterlassen hast?
Nilo zögerte. „Vielleicht ist meine Weisheit doch nicht ganz unendlich.”
Vielleicht nach unendlich viel Zeit.
„Zeit. Das ist es. Nur Zeit kann den Schmerz der Trauer lindern. Zeit und viele Krüge Bier.”
Bier, das soll die Weisheit der anderen Seite sein?
„Nein, das ist aus dem Leben übrig. Sag es ihm. Aber finde eine geschicktere Art, es auszudrücken.”
Rhia sprach den Namen ihres lebenden Bruders. Lycas drehte sich zu ihr um.
„Nilo sagt...”, sie hielt seinem Blick stand, „du sollst seinen Tod nicht rächen. Nur das Verstreichen von Tag und Jahr wird deine Trauer lindern – unsere Trauer. Wir nehmen einander die Last der Trauer von den Schultern.”
Lycas starrte sie an. „Du sprichst mit ihm?”
Rhia blickte Coranna an, um zu sehen, ob sie eine ungeschriebene Regel brach. Ihre Mentorin deutete auf Lycas.
„Im Grunde spricht eher er zu mir”, antwortete Rhia.
Er machte große Augen. „Frag ihn ... frag ihn, ob ...” Er schien nach den richtigen Worten zu suchen, nach irgendwelchen Worten. „Frag nur, ob er glücklich ist.”
„Ja”, sagte Nilo.
Rhia nickte. Lycas verzog sein Gesicht zu einem Lächeln, das fast eine Grimasse war.
„Ich wünschte, er wäre so glücklich, wie ich es bin”, sagte Nilo, „aber eines Tages wird er es sein. Wenn wir wieder zusammen sind, auf der anderen Seite.”
Sie wiederholte die Worte ihres Bruders, wie er sie ihr vorsprach. Lycas stolperte zurück zu ihrer Familie und setzte sich, den Kopf auf die Hände gestützt.
Nilo sprach noch einmal. „Hier ist ein Vogel, der sagt, ich muss gehen.”
Sie verbot sich, ihn anzuflehen, zu bleiben. Ich liebe dich. „Viel Glück. Krähe sagt, du wirst es brauchen.”
Was soll das bedeuten?
„Ich liebe dich auch.”
Dann war er verschwunden.
Sie nahm endlich den Mut zusammen, Marek anzusehen. Sein Gesicht zeigte ein leichtes Lächeln, in dem keine Angst lag.
Coranna begann das Anrufen der Krähen, und Rhia schloss sich ihr einige Töne später an. Sie hörte sie aus der Ferne, wie man einen Wasserfall hört – rauschend, tosend im Hintergrund des Bewusstseins. So ein Aufruhr konnte nicht von einer einzigen Krähe kommen.
Der ferne Horizont verdunkelte sich, wie sie es in dem Traum in der Nacht vor ihrem Tod gesehen hatte. Jetzt flogen sie über vertraute Landschaften, die Wälder und Felder ihrer Heimat. Sie kamen mit Stimmen, die ihre Seele erschütterten und gleichzeitig erhoben.
Die Menge stand da und sah dem Schwärm zu. Es waren zu viele Vögel, um sie zu zählen, aber Rhia war sich sicher, dass Krähe die Seelen der Gefallenen gezählt und für jede einzelne einen Boten geschickt hatte. Sie riefen einander im Flug zu, ein schöner und doch schrecklicher Choral.
Ein Choral des Trostes für jene, die zurückbleiben mussten.
„Ärgere die Hunde nicht.”
Lycas winkte ab und packte weiter Vorräte aus der Küche ihres Vaters für ihre Rückreise nach Kalindos ein.
„Ich meine es ernst”, sagte Rhia.
„Marek und Alanka haben mich gebeten, Bier einzupacken. Ich habe zwei Fässer an jedes Pony geschnallt, das sollte den Sommer über reichen.” Er drehte sich zu
Weitere Kostenlose Bücher