die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin
wartete. Er fasste in seine Hosentasche und zog dann seine Hand heraus.
„Komm näher.” In seiner warmen Stimme lag ein leichtes Zittern, und sein Blick wirkte seltsam verwundbar.
Rhia ging näher zu ihm. Ihr Kopf reichte kaum an sein Kinn heran, und sie hätte schwören können, seinen Atem auf ihrem Haar zu spüren, aber wahrscheinlich war das nur der Wind. Sie beugte sich über seine Handfläche, die er eng an seinen Bauch gedrückt hielt. Er öffnete sie und zeigte ihr eine kleine Schnitzerei, nicht länger als ihr Daumen.
„Das ist für deine Mutter”, erklärte Areas. „Nimm es ruhig.” Rhia ergriff das Stück Holz und hielt es dicht vor ihr Gesieht. Ein Otter stand auf seinen Hinterfüßen, die Pfoten vor der Brust verschränkt, und trug den Ausdruck intelligenten Staunens auf dem winzigen Gesicht.
„Wie schön. Er sieht aus, als würde er mich bitten, mit ihm im Fluss herumzutollen.” Sie drehte es in der Handfläche um. „Aber wie einer von Janos sieht er nicht aus.”
„Das hegt daran, dass es nicht von ihm ist.” Unsicher sah er sie an, bevor er zu Boden schaute. „Sondern von mir.”
Erstaunt keuchte Rhia auf. „Du hast das gemacht?”
Areas kratzte sich im Nacken und starrte auf seine Füße, mit denen er im feuchten braunen Gras herumscharrte. „Ich dachte, wenn deine Mutter einen neuen braucht – oder einen extra, nur für den Fall. Sie hat so viel dafür getan, Großmutters Schmerzen zu lindern, als sie im Sterben lag.”
Das war eine sehr hebe Geste. Ottermenschen mussten sich normalerweise damit zufriedengeben, eine Schnitzerei zu tragen, die ihren Geist abbildete, weil es ungerecht war, ein so seltenes Tier nur um des Fetischs willen umzubringen. Von jedem anderen Jungen, dachte Rhia, wäre ein solches Geschenk ein Versuch, sich bei den Eltern der Zukünftigen einzuschmeicheln. Aber Areas hatte ein großes Herz, so groß wie der Rest von ihm, und sie fragte sich, ob es je ihr allein gehören würde.
Sie legte ihm den Otter zurück in die Hand, sah sich seine Hände an, die im Gegensatz zu ihren riesig wirkten, und fragte sich, wie diese Hände etwas so Feines hatten erschaffen können. „Hast du ihn sonst jemandem gezeigt?”
Er schüttelte den Kopf. „Warum sollte ich? Es ist nur eine dumme Sache, mit der ich mir beim Hüten der Schafe die Zeit vertreibe.”
„Vielleicht bist du auch eine Spinne.”
„Nein. Bär. Vater irrt sich in diesen Dingen nie.” Er schob den Unterkiefer vor, und sie beschloss fast, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Aber wenn er wirklich Spinne war, dann konnte er Waffen herstellen, statt sie zu benutzen, und dann wäre er in Sicherheit und würde eines Tages alt und grau werden, ehe sie hören musste, wie die Flügel sich auf seine ... Hör auf damit! In Gedanken gab Rhia sich selbst eine Ohrfeige. Es brachte nichts, über diese Dinge nachzudenken, und mehr als alles andere wollte sie von Nutzen sein.
„Du solltest deinem Vater von deinen Talenten erzählen”, sagte sie. „Vielleicht ändert er dann seine Vorhersage.”
„Bist du mit deinen Aufgaben fertig?” Areas warf einen Blick zum Haus und dann zu Rhia. „Ich glaube nämlich, ich habe letztes Mal, als ich hier war, etwas hinter den Ställen vergessen.”
Er nahm ihre Hand, ehe sie antworten konnte. Zwei kastanienbraune Ponys hoben ihre Köpfe und sahen dabei zu, wie sie den Hügel hinunterrannten, ehe sie sich wieder ihrem friedlichen Grasen zuwandten.
Mit dem Rücken gegen die Stallwand und knöcheltief im süß duftenden Gras, zog Rhia Areas an sich, bis er nur noch ein kurzes Stück entfernt war. Seine Lippen streiften ihre Stirn und den Augenwinkel, und sie atmete den süßen Moschusduft an seinem Hals ein.
„Ist das nicht besser, als über einen Krieg zu reden, den es gar nicht gibt?”, fragte er sie.
„Hier drinnen gibt es ihn.” Sie tippte sich an die Schläfe. „Dort gibt es so viele Sorgen, die alle von mir Gehör verlangen.”
Areas hob ihr Kinn mit einem Finger an. „Dann lass mich sie beruhigen.”
Er küsste sie sanft, und sie erschauerte noch heftiger als beim ersten Mal – nicht nur durch den Kuss selbst, sondern von dem, was danach kam, wonach er sie verlangen ließ. Sie schob die Hände in sein Haar und presste ihre Lippen fester auf seine. Wenn sie bloß nicht so jung wären ...
Mädchen und Jungen ihres Alters hatten kaum Gelegenheit, allein zu sein. Eltern zu werden bedeutete, ihre Gaben auf die nächste Stufe zu erheben, und wenn das
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