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die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin

die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin

Titel: die Seelenwächterin - Smith-Ready, J: Seelenwächterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeri Smith-Ready
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geschah, ehe man die Gaben der ersten Phase verstand – oder noch schlimmer, ehe sie einem überhaupt geweiht worden waren -, wäre es wie fliegen lernen, ehe man kriechen konnte. Rhia fand es ungerecht, dass die Bräuche der Geister so weit an den Bedürfnissen junger Körper vorbeigingen, von denen sich ein besonders muskulöser gerade an ihren drängte.
    Eine ferne Stimme rief ihren Namen. Seufzend löste sie sich von Areas’ Lippen. „Das ist mein Vater”, sagte sie.
    Er schlang die Arme fester um ihre Taille. „Seine Stimme trägt ziemlich weit, oder?”
    Rhia lachte und löste sich aus seiner Umarmung, um den Hügel hinaufzurennen. Ihr wurden schon nach wenigen Schritten die Beine müde. Sie drehte sich um, um rückwärts zu gehen, damit sie zusehen konnte, wie Areas ihr mit seinem langsamen, aufmerksamen Schlenderschritt folgte, ein Bär im Körper eines Mannes, das stand fest.
    Ihr Absatz verfing sich im Saum ihres langen Rockes, und sie stolperte in den Matsch. Der Boden fing ihren Fall auf. Areas krümmte sich vor Lachen, was seine Beine so sehr zu schwächen schien, dass sie den Hügel nicht länger erklimmen konnten. Rhia rappelte sich vom Boden auf und versuchte, sich mit aller Würde, die sie noch aufbringen konnte, den Dreck vom Hinterteil zu wischen. Ihre schlammigen Hände verschmierten den Fleck auf ihrem hellgrünen Rock zu einem breiten braunen Striemen. Die Kreatur, die Ungeschick verkörperte, welche es auch sein mochte, musste ihr Geist sein.
    „Da bist du ja.”
    Mayra stand hinter ihr, und neben ihr standen Galen und Tereus. Die drei sahen Rhia ungewöhnlich eindringlich an.
    „Galen möchte mit dir sprechen.” Tereus streckte seiner Tochter die Hand entgegen. „Komm herein.”
    „Du bleibst hier”, sagte der Ratsvorstand zu seinem Sohn. Die vier betraten gemeinsam das Haus und setzten sich an den hölzernen Tisch. Einige Augenblicke lang sprach niemand, und Rhias Füße begannen, unruhig zu werden. Die Zehen an ihrem rechten Fuß zogen den Absatz ihres linken Schuhs mehrere Male an und aus, und dann tat der linke Fuß es ihm gleich.
    Endlich räusperte ihre Mutter sich. „Galen hat gute Neuigkeiten.” Die Männer sahen sie verwirrt an. „Das heißt, er hat Neuigkeiten”, sagte Mayra. „Vielleicht sind sie gut.”
    Galen seufzte und wandte sich an Rhia. „Ich brauche deine Hilfe.”
    Rhia sperrte den Mund auf und schloss ihn genauso schnell wieder. Sie hatte noch nie erlebt, wie Galen einen Erwachsenen um Hilfe bat, ganz zu schweigen von einem Mädchen ihres Alters.
    „Was soll ich – äh, was kann ich tun? Für Euch. Was kann ich für Euch tun?”, stammelte sie.
    Gequält kniff Galen die dunkelblauen Augen zusammen. „Wie du weißt, ist mein Bruder Dorius sehr krank. Deine Mutter sagt, sie kann nichts mehr für ihn tun.”
    Rhia nickte. „Das tut mir leid.”
    „Du könntest ...” Sein Kiefer zitterte. „Wenigstens würde ich es dann wissen. Wissen, was kommt und wann.”
    Rhia sah erst ihre Eltern an, dann Galen. „Ich verstehe nicht.” „Du hast die Macht”, platzte es aus ihm heraus. „Du weißt, wann der Tod kommt.”
    Ihr wurde ganz schwindelig.
    „Die Tiere”, sagte Galen. „Es hat mit deinem Hund angefangen. Ich habe Geschichten gehört. Und außerdem ...” Er straffte sich und sah wieder mehr wie der mächtige Mann aus, der er war. „Zu erkennen, was die Gabe von anderen ist, ist eine von meinen. Eine meiner Gaben. Sag mir, wenn du ein krankes Tier siehst, woher weißt du dann, ob es leben wird oder sterben muss?”
    Sie wandte ihren Blick ab. „Das ist nur so ein Gefühl.” „Beschreib es mir.”
    Rhia atmete tief ein und konzentrierte sich auf die Worte statt auf den Drang, wegzurennen. „Ich sehe sie an, sehe in ihre Augen und höre einen Vogel. Es klingt verrückt, aber wenn der Vogel davonfliegt, dann lebt die Kreatur, und wenn er landet, muss das arme Ding sterben. Und wenn er fliegt, dann weiß ich, wie er zurückkommen wird.”
    „Wie wer zurückkommen wird?”, fragte Galen.
    Sie antwortete nicht, sondern starrte nur auf einen Knoten in der hölzernen Oberfläche des Tisches. Sie wollte einen Finger hineinstecken und den Schlingen bis in die dunkle Mitte folgen, aber das, glaubte sie, würde unter den Umständen wohl zu kindisch wirken.
    „Antworte ihm, Rhia”, forderte ihre Mutter sie sanft auf. „Krähe”, flüsterte sie. „Krähe kommt und nimmt sie mit auf die andere Seite. Und ich sehe dabei zu.” Noch leiser flüsterte sie:

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