Die Seelenzauberin - 2
einer geistlosen Marionette gemacht, die gehorchen musste, auch wenn man ihr befahl, ihren Auftrag zu verraten? Ihren heiligen Auftrag!« Er schmetterte seine Faust so heftig hinter sich gegen die Brüstung, dass Kamala hörte, wie ein Knochen brach. Für einen Moment durchzuckte der Schmerz seinen Blick, dann trat eine erschreckend finstere Genugtuung an seine Stelle. Mit dem gleichen Gesichtsausdruck hatte er sich die Zeichen aus dem Inneren des Speers ins Fleisch geritzt. Diesmal ging er ihr nicht weniger an die Nieren.
»Die Hüter werden sie rächen«, sagte Kamala ruhig. Sie empfand die Äußerung im Angesicht seiner Verzweiflung selbst als unzulänglich, aber mehr konnte sie ihm nicht geben. »Möchtest du nicht dabei sein? Möchtest du nicht mithelfen, diese Rache auszuführen?«
»Und woher weißt du, dass ich nicht wieder versagen werde?«, stieß er hervor. »Es ist besser für alle, wenn ich nicht mehr da bin.«
Er schaute über die Brüstung – hinab in die tiefen, schwarzen Schatten – und erschauerte. Kamala glaubte schon, er würde tatsächlich springen, und beschwor genügend Macht, um ihn aufzuhalten – doch da tönte eine weiche Stimme durch die Abendluft, eine Stimme, die gerade durch ihre Sanftheit aufrüttelte. »Rhys.«
Erschrocken drehte er sich um.
Gwynofar Aurelius ging langsam an Kamala vorbei und streckte ihm die Hand entgegen. Der Mondschein umgab ihr Haupt mit einem Glorienschein, ihr Haar leuchtete in diesem Licht fast so hell wie das seine; sie sah aus wie ein Märchenwesen, das aus einer anderen Welt gekommen war, um ihn zu retten.
»Verlass uns nicht, Rhys. Nicht gerade jetzt.« Sie hielt inne, und als er nicht antwortete, fügte sie leise hinzu: »Verlass mich nicht.«
Die ganze Welt schien den Atem anzuhalten; selbst der Wind schien auf seine Antwort zu lauschen. Auch Kamala wagte nicht zu atmen. Von Rhys kam immer noch keine Reaktion.
Gwynofar trat erst einen, dann einen zweiten Schritt auf ihren Halbbruder zu. Der erschauerte wieder und warf einen letzten Blick über die Brüstung in die Tiefe, aber er wich nicht vor ihr zurück.
Dann umfasste die schmale weiße Hand sehr behutsam seinen Arm, und mit einem einzigen Atemzug schien alle Kraft aus seinem Körper zu weichen. Er sank in sich zusammen, sie fing ihn auf und hielt ihn fest. Einen Augenblick sträubte er sich noch, dann erwiderte er die Umarmung und drückte sein Gesicht in ihr Haar. Vielleicht weinte er auch. Der Damm war gebrochen.
»Es gibt so viel zu tun«, flüsterte Gwynofar ihm zu. »Und du wirst so dringend gebraucht. Du musst stark sein, mein Bruder.«
Kamala beobachtete die beiden noch ein wenig länger. In ihrem Herzen regte sich ein leiser, namenloser Hunger. Eifersucht? Der Gedanke trieb ihr die Schamesröte ins Gesicht. Endlich wandte sie sich ab und ließ die beiden allein. Du bist nicht eifersüchtig , beteuerte sie sich selbst und öffnete vorsichtig die Tür, die in die Burg zurückführte. Worauf solltest du denn eifersüchtig sein? Sie schlüpfte hinein und zog die Tür leise, ganz leise hinter sich zu, um die Geschwister nur ja nicht zu stören.
Danach lehnte sie sich mit dem Rücken dagegen, atmete ein paar Mal tief durch und versuchte, sich über ihre eigenen Gefühle klar zu werden. So viele fremde Empfindungen. So viele unbekannte Fragen. Würde sie alles besser verstehen, wenn sie etwas von diesem geheimnisvollen Lyr -Blut in den Adern hätte?
Unter den Lyr gibt es keine Magister , fiel ihr ein. Warum war das so? Logisch war es jedenfalls nicht; in einer Bevölkerung mit einem natürlichen Hang zu geheimen Kräften müsste es mehr Magister geben als anderswo und nicht weniger. Doch hier war das Gegenteil der Fall.
Dafür muss es einen Grund geben , dachte sie.
»Kamala.«
Sie blickte überrascht auf und sah, dass Ramirus vor ihr stand. Was hatte er gesehen, während sie sich allein wähnte und ihre Gesichtszüge nicht beherrschte? Innerlich verwünschte sie die eigene Nachlässigkeit. An einem Ort wie diesem musste sie immer auf der Hut sein; man wusste nie, wer einen belauerte.
Als sie nicht antwortete, drängte er: »So möchtet Ihr doch genannt werden?«
Sie stieß sich steif von der Tür ab, wohl wissend, dass er von nun an jede ihrer Bewegungen beobachten, analysieren und sich einprägen würde. Eine bedrückende Vorstellung, aber seltsamerweise auch erfrischend; mit einem Begriff wie Misstrauen konnte sie sehr viel mehr anfangen als mit Anteilnahme und Zuneigung. »So
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