Die Seelenzauberin - 2
auseinanderstoben, und stürmte aus dem Raum.
Kamala beschwor einen Hauch von Magie, um seine Absichten zu ergründen, und als die Antwort eintraf, stand sie ihrerseits rasch auf und eilte ohne Rücksicht auf protokollarische Erfordernisse – für jemanden ihres Ranges wäre zweifellos ein kompliziertes Ballett von Knicksen und Entschuldigungen fällig gewesen, bevor sie diese erlauchte Gesellschaft verlassen durfte – schnurstracks hinter ihm her. Mochte man sie später dafür zur Rechenschaft ziehen. Wegen solcher Dummheiten würde sie kein Risiko eingehen.
Was geht es dich an, was mit ihm geschieht? , fragte sie sich.
Für eine Antwort war keine Zeit.
Sie folgte Rhys und seinem Gram von Zimmer zu Zimmer durch den Palast. Sein Kummer war für ihr Zweites Gesicht so klar zu erkennen wie eine Tierfährte aus Losung für einen Jäger. Einmal verfing sie sich mit dem Fuß in ihrem langen Rock und fluchte so lästerlich, dass ein Seemann errötet wäre, aber sie wollte sich keine einzige Sekunde lang ablenken lassen, um ihn zu verkürzen, deshalb raffte sie den Stoff zusammen, zog den Rock unanständig weit – bis zur halben Wade – hoch und eilte weiter.
Diener stoben auseinander, sobald sie sich näherte, vielleicht fürchteten sie, einfach überrannt zu werden, wenn sie nicht schnell genug den Weg frei machten. Die Angst war berechtigt.
Nachdem sie eine eisenbeschlagene Tür passiert hatte, stand sie plötzlich im Freien. Weit oben, auf einem Wehrgang mit hüfthoher Brüstung irgendwo nahe der höchsten Turmspitze der Festung. Beide Monde standen am Himmel und waren halb voll. In ihrem Schein sah sie Rhys auf unsicheren Beinen an der Brüstung stehen und in die Nacht hinausschauen. Die Abzeichen in seinem Haar glitzerten wie gefangene Sterne, wenn der Wind die Zöpfe bewegte. Mit seiner verletzten Hand umfasste er die kalte Brüstung. Kamala glaubte, ein dünnes Blutrinnsal über den Stein sickern zu sehen.
Sie wusste, ohne zu fragen, warum er so völlig reglos dastand und über das Land schaute. Er überlegte, aus welcher Höhe er springen müsste, um eines schnellen Todes zu sterben und nicht zerschmettert, aber noch lebend liegen zu bleiben. Der Sturz wäre sinnlos, wenn damit nur die Künste eines Heilers auf die Probe gestellt würden.
Kamala stand eine ganze Weile lang schweigend da. Sie wagte nicht, ihn anzusprechen oder auf ihn zuzugehen, aus Angst, ihm damit den letzten Anstoß zu geben, sich in die Tiefe zu stürzen.
»Sie war noch am Leben «, sagte er endlich. Seine Stimme war heiser vor Schmerz. Sprach er mit ihr oder mit sich selbst? »Ich sah, wie sie fiel, wie sie unter das Pferd geriet, und hielt sie für tot … ich zweifelte nicht , als man mir sagte, sie sei tot … Wäre sie noch am Leben, wenn ich nicht so töricht gewesen wäre? Hätte ich sie retten können?«
»Alle Männer dort waren aufrichtig von ihrem Tod überzeugt«, sagte Kamala so sanft, wie sie konnte. »Der Wärter wahrscheinlich auch.« Würde er es dulden, wenn sie näher träte, wenn sie den Arm ausstreckte, um ihn zu berühren? Oder würde er sich über die Brüstung schwingen und wäre für immer verloren? »Es hätte nichts genützt, sie eingehender zu befragen.«
»Begreifst du denn nicht?« Jetzt drehte er sich nach ihr um. Sein Gesicht war schweißüberströmt – oder nass von Tränen? – und seine grauen Augen waren blutunterlaufen und voller Verzweiflung. »Ich hätte Alkal nicht verlassen dürfen, bevor wir sie gefunden hatten! Ich hätte notfalls die ganze Zitadelle auseinandernehmen müssen, Stein für Stein, bis ich sie entweder in Sicherheit gewusst oder ihren Leichnam in meinen eigenen Armen gehalten hätte! Verstehst du das? Kannst du es überhaupt verstehen? Ich habe sie im Stich gelassen!« Er schloss die Augen und flüsterte heiser: »Ich habe versagt.«
Kamala wusste nicht, was sie noch sagen sollte. Spontanes Mitgefühl war ihr fremd, und im Trösten von Männern war sie unerfahren. So stand sie nur schweigend da und hoffte, ihn allein durch ihre Gegenwart an die Welt der Lebenden binden zu können.
Was geht es dich an, ob er lebt oder stirbt? , beharrte die innere Stimme.
»Ob man sie wohl gleich getötet hat, was meinst du?« Rhys’ Stimme war nur noch ein heiseres Flüstern. »Hat man ihren Leichnam durch Zauberei konserviert, damit er nicht verweste, und ihn dann in Soladin abgelegt, als wäre sie erst dort umgekommen? Oder hat man ihr mit Zauberei den Verstand ausgelöscht und sie zu
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