Die Seelenzauberin - 2
Königen, anstatt einfach selbst König zu werden?«
Er drehte sich langsam um und sah sie an. Seine Augen sprühten schwarze Funken durch die Dunkelheit.
»Weil wir«, sagte er, »in der Welt ertrinken würden, wenn sie weder Struktur noch Grenzen hätte.«
Und dann legten sich die Schatten der Wandschirme um ihn, und sie war wieder allein.
Kapitel 3
Die Seher saßen im Kreis und hielten sich an den Händen. Nur die weichen Trommelschläge im Hintergrund drangen zu ihnen, für alles andere waren sie taub. Unablässig löste sich der Banngesang von ihren Lippen, ein eintöniges Gemurmel, uralte Weisen und Texte in längst vergessenen Sprachen, geheimnisvolle Klänge von einschläfernder Wirkung. Der große Saal schien sich während des Gesangs aufzulösen; auch die Männer und Frauen, die hinter den Sehern im Kreis saßen, verschmolzen mit den Schatten, bis die Zuschauer nur noch wie Phantome erschienen: weit entfernt und ohne jede Bedeutung.
Der Bann war alles, worauf es ankam.
Langsam geriet die Luft innerhalb des Kreises in Bewegung. Zuerst schlug sie leichte Wellen – wie eine Regenpfütze bei Wind oder die Wüstenluft über heißem Sommersand –, dann wurde sie plötzlich wie von einer unsichtbaren Klinge entzweigeschnitten, und eine Spalte tat sich auf. Farben quollen aus der Öffnung und füllten den Kreis mit wallenden Lichtbändern: verschiedene Blautöne, Violett, ein grelles Grün. Satte, leuchtende Farben, die in der stauberfüllten Luft wie Edelsteine funkelten. Bald tanzte ein Gewirr bunter Bänder durch den Kreis, eine wogende Masse, die im Takt mit den Trommelschlägen pulsierte. Der Gesang wurde lauter, die Seher bündelten ihre Kräfte; wer von den Zuschauern mit den alten Sprachen vertraut war, hätte hier und dort vereinzelte Worte heraushören können, Reste von Beschwörungen aus einer früheren Zeit, die sich nur in alten Büchern und mystischen Gesängen erhalten hatten.
Höre unser Rufen!
Ehre unsere Gemeinschaft!
Nimm an unser Opfer!
Die bunten Bänder verwoben sich allmählich zu einem Bild. Im Zentrum des Kreises wurde eine Gestalt erkennbar, eine eigenartige Kreatur. Sie war lang und gewunden wie eine Schlange, bewegte sich aber auf eine Weise, die mehr als nur die Intelligenz eines Reptils verriet. Immer neue Bänder verknoteten sich um ihre Körpermitte, schwärmten fächerförmig aus und nahmen die Form von breiten Schwingen an, die geädert waren wie bei einer Libelle. Tausend fein abgestufte Blau- und Violett-Töne wogten über die Fläche. Das Wesen schwebte mit gleichmäßigen Flügelschlägen ein Stück weit über dem Boden.
Unter den Zuschauern zog einer der Heiligen Hüter scharf die Luft ein. Sein Nebenmann legte ihm mahnend die Hand auf die Schulter.
Nun entstand vor der Kreatur eine zweite Gestalt: ein Mann, hochgewachsen und mit dem goldenen Haar der Nordländer. Er war bewaffnet, dennoch wirkte er neben der geflügelten Bestie, die vor ihm aufragte, klein und zerbrechlich. Beherzt zog er seine Waffe und stieß einen seltsam tierischen Laut aus. Jeder Mann, jede Frau im großen Saal wusste, was dieser Schrei bedeutete, und er verursachte allen eine Gänsehaut. Das geflügelte Wesen hatte ihn offensichtlich ebenfalls gehört, denn es richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf den einsamen Krieger, genau so, wie es in den Mythen geschildert wurde.
Die beiden kämpften miteinander.
Die Bestie war erschreckend stark, doch waren ihre Kräfte nicht unbegrenzt. Ein Armbrustpfeil in die Innenseite einer Schulter warf sie zur Erde. Sie zischte wie eine gereizte Echse.
Der Mann war geschickt, aber unerfahren. Der Schwanz der Bestie schoss schneller und kraftvoller auf ihn zu, als er erwartet hatte, er traf ihn an der Brust, und man hörte die Rippen brechen.
Und während der Kreis der Seher weitersang – und die Heiligen Hüter dahinter wie gebannt zusahen –, stieß der Mann seinen Speer nach oben durch den Unterkiefer bis ins Hirn des Ungeheuers … Nach den letzten Todeszuckungen der Kreatur war der Kampf beendet.
Die Seher raunten noch so lange weiter, dass alle Anwesenden das getötete Ungeheuer studieren und sich wichtige Einzelheiten einprägen konnten: die dicken Panzerplatten, die den Unterleib schützten; die langen scharfkantigen Schuppen am Ende des Peitschenschwanzes; die tödlichen Stacheln, die sich über Hals, Rücken und Schwanz zogen – nur an einer kleinen Stelle über den Schultern befand sich lediglich Narbengewebe, knotige, bizarr verdrehte
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