Die Seevölker
1921), S. 72.
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Die ägyptische Chronologie muß ein mächtiger Stamm sein, um die
Äste der Geschichte vieler Königreiche und Kulturen der Vergangen-
heit tragen zu können. Ist aber die ägyptische Chronologie selbst in
schlüssigen Zeugnissen verwurzelt? Es mag scheinen, daß diese Frage
heute zu spät aufgeworfen wird: Nicht allein die gesamte wissen-
schaftliche Literatur der Ägyptologie, auch komplette Bibliotheken
über die Vergangenheit der Menschheit wurden gemäß dem Schema
zusammengestellt, das die Ägyptologen für alle anderen Zweige der
Altertumsgeschichte errichtet haben.
Jedermann ist sich einig, daß die ägyptische Chronologie so gut er-
sonnen ist, Jahrhundert um Jahrhundert, Jahrzehnt um Jahrzehnt, oft
sogar Jahr um Jahr, daß kein neuer Nachweis dieses massive Gebilde
zerbrechen kann. Welches sind dann die Grundfesten dieses Systems,
von dem die Ägyptologen entschieden haben, es sei absolut fest, und
dem Gelehrte anderer Wissensgebiete mit festem Vertrauen ihre Daten
und Normen entnehmen?
Von den Ägyptern ist nicht bekannt, daß sie ein System kontinuier-
licher Jahreszählung über Zeitabschnitte gekannt hätten. Ereignisse
wurden nach den Regierungsjahren des jeweiligen Herrschers datiert.
Hatschepsuts Reise in das Heilige Land erfolgte im neunten Jahr der
Königin; die Schlacht bei Kadesch wurde im fünften Jahr Ramses' II.
geschlagen. Aber manchmal regierten ein König und sein Sohn ge-
meinsam; in diesem Fall läßt sich die Chronologie der Dynastie nicht
rein durch Addition der Regierungsjahre jedes der Monarchen
bestimmen, da nicht immer klar ist, ob die Jahre des Throninhabers um
die Anzahl der Jahre des Mitregenten zu reduzieren sind. Im weiteren
kann die Regierungszeit aus Dokumenten nur annähernd ermittelt
werden: Die höchste Jahreszahl einer Denkmalinschrift eines Königs
wird als provisorische Begrenzung angenommen, es ist aber nicht
notwendigerweise auch das letzte Jahr seiner Regierung. Vielfach ist es
unmöglich, aus der Datendokumentation von Denkmälern die Folge
von Königen einer Dynastie darzustellen. Und – was viel wichtiger
und entscheidender ist, und was ich hervorheben möchte – die Aufein-
anderfolge der Dynastien ist durch nichts endgültig bestimmt. Nur für
einige besondere Ausnahmen finden sich historische Anhaltspunkte,
welche zwei Dynastien andeuten, die aufeinanderfolgend regierten.
Die Denkmalzeugnisse, so wird zugegeben, liefern allein kein aus-
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reichendes Material, um ein chronologisches System aufzubauen.
Wenn sich ein derartiges System durch andere Mittel errichten läßt,
können Denkmalinschriften hier und dort hilfreich sein, um die Ereig-
nisdaten während der Regierungszeit eines bestimmten Königs genau-
er zu bestimmen.
Einige wenige Dokumente, wie der in zahllose Fragmente zerbro-
chene und mühselig, wenn auch nicht fehlerlos wieder zusammenge-
fügte Turiner Papyrus I sowie der Palermostein, beide mit der Königs-
genealogie in frühester Zeit beginnend, erreichen eigentlich nicht mehr
das Zeitalter des Neuen Reiches, das zusammen mit der Spätzeit die
Periode dieser Rekonstruktion umfaßt. Und doch nennen diese Doku-
mente für die Zeit, die sie einschließen, aufsehenerregende Thronfol-
gen, wie mehr als einhundert Könige für die dreizehnte Dynastie, die
letzte des Mittleren Reiches. Eine übertriebene Anstrengung, die Früh-
geschichte Ägyptens von großer Dauer erscheinen zu lassen, verleiht
diesen Dokumenten nur sehr begrenzten Wert.
»Ein Skelett, bekleidet mit Fleisch«
»Es ist keine Übertreibung zu sagen, daß wir fortfahren, die Geschichte
Ägyptens und die Tatsachen dieser Geschichte in genau der gleichen
Weise anzuordnen, wie sie uns von Julius Africanus hinterlassen wur-
de, der im dritten christlichen Jahrhundert schrieb.«1 Africanus, einer
der Kirchenväter, bewahrte das Vermächtnis Manethos aus dem drit-
ten vorchristlichen Jahrhundert. Manetho war ein ägyptischer Schrei-
ber, Historiker, Polemiker und Antisemit, Erfinder einer unbegründe-
ten Identifikation von Moses mit Typhon, dem Bösen Geist, und der
Israeliten mit den Hyksos; außerdem, sich selbst widersprechend,
identifizierte er Moses mit dem aufständigen Priester Osarsiph viel
späterer Zeit, der die Aussätzigen Jerusalems für seinen Krieg gegen
das eigene Land zu Hilfe rief.
Bei der Gestaltung seiner Geschichte Ägyptens, und in der Zusam-
menstellung des Registers von
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