Die Seherin der Kelten
Leute nicht derart beleidigt. Und überhaupt, in den ersten Tagen hatte Bellos noch zwischen Leben und Tod geschwebt, hatte Einsamkeit und Frieden gebraucht, die nur ein zurückgezogenes Leben ihm bieten konnten. Auf mac Calmas Bitte hin hatte man ihnen also die kleine Steinkate am Rande des Stroms hergerichtet, und wenn die jungen angehenden Träumer, die sie gefegt hatten und das Feuer entzündeten und die zerkleinerten Binsen auf dem Boden verteilten, dies auch mit abgewandtem Blick getan haben mochten und das Zeichen Nemains machten, als sie schließlich wieder gingen, so zog Valerius es doch vor, nichts dazu zu sagen.
Zu diesem Zeitpunkt war er ohnehin noch völlig arglos gewesen, und ihm war schlecht von der Überfahrt über das Meer. Zudem hatte sich jener Teil seines Bewusstseins, der noch nicht von Bellos’ Wohlergehen besessen war, um die rote Stute und den stämmigen, braunen Wallach gesorgt, die man für den Fall, dass sie irgendwelche derzeit noch verborgenen Krankheiten auf die heilige Insel brächten, zur Beobachtung in einen kleinen Pferch verbannt hatte.
Die Zeit der Wintersonnenwende kam, und kurz danach schlug Bellos endlich wieder die Augen auf und nahm sowohl Nahrung als auch Wasser an. Das war einen Tag, bevor ein kleines Mädchen zufällig auf Valerius stieß, als dieser sich gerade in eine Grube erleichterte, und ihn dafür verfluchte, in dem Haus einer Träumerin zu leben. Als er mac Calma diesbezüglich schließlich befragte, fand Valerius heraus, dass die Steinkate, in der er lebte, tatsächlich Airmid gehört hatte, und dass die getrockneten Pflanzen und Wurzeln und Pasten, die zu Bellos’ Genesung verwendet wurden, die ihren gewesen waren.
Doch zu diesem Zeitpunkt war es bereits zu spät gewesen, um wieder auszuziehen, und es hätte auch keinen Sinn mehr gemacht: Die Winterstürme hatten Mona völlig abgeriegelt, und zwar sowohl vom Festland als auch von Irland, und der Schnee hatte das Große Versammlungshaus und die Kate voneinander abgeschnitten, so dass Valerius und Bellos und die Krieger ohnehin ebenso gut auf verschiedenen Inseln hätten leben können. Die rote Stute war aus ihrem Quarantänepferch entlassen worden und hatte es sich angewöhnt, dicht an der Außenwand der Kate zu stehen, den Kopf zur Tür hereingestreckt und den Blick auf Bellos gerichtet, der auch sie anschaute. Lange bevor er wieder sprechen konnte, hatte er der Stute bereits ein Lächeln geschenkt - und schließlich auch Valerius.
Somit verbrachte Valerius den Winter und die ersten Monate des Frühlings ausgerechnet in der Hütte jener Frau, die er zuletzt auf einem Schiff mitten auf der Irischen See gesehen hatte; eine Frau, die in ihren Träumen so tief mit Nemain verbunden war, dass sie ihr Heim sogar unmittelbar am Wasser errichtet hatte, das schließlich dafür bekannt war, die weniger robusten Sterblichen in den Wahnsinn zu treiben; eine Frau, die das Zeichen des Frosches - ihr Traumsymbol - in die engen, dunklen Ecken der Hütte geritzt hatte, wo Valerius sie allerdings erst im Frühling entdeckte, als er die Dachbedeckung aus Schilfgras entfernte und durch frisches ersetzte. Was ihn aber schließlich noch stärker beunruhigte als irgendeines dieser Dinge, war, dass er in dieser Hütte einer Träumerin und in Hörweite von fließendem Wasser bereits seit einer Vielzahl von wechselnden Mondzyklen nicht mehr träumte.
Er beschloss, darüber besser nicht nachzudenken, und vertiefte sich stattdessen in andere Arbeiten. Hilfreicherweise war Luain mac Calma gleich mit dem ersten Schiff nach den Äquinoktialstürmen wieder davongesegelt und hatte Valerius mit so zahlreichen Arbeitsanweisungen zurückgelassen, dass dieser damit leicht seine Tage ausfüllen konnte. In der Zeit der stetig zunehmenden Frühlingswärme pflegte Valerius Bellos also, bis dieser - schleppend - sogar wieder zu sprechen vermochte und schließlich eine Klarheit des Ausdrucks bewies, die der Junge vor seiner Verletzung noch nicht hatte erkennen lassen. Mit dem Sprechen war die Kraft zurückgekehrt, und mit der Kraft, so schloss Valerius, sollte bald auch die Fähigkeit wiederkehren, sich von seinem Lager erheben zu können. Und wenn Bellos stehen konnte, konnte er auch ein Schwert halten. Und damit wäre mac Calmas Anforderungen bereits Genüge getan.
An dem Tag, an dem Bellos stehen kann, sein eigenes Schwert hebt und damit zwei deiner Schläge pariert, ohne die Waffe fallen zu lassen, an dem Tag will ich zustimmen, dass er geheilt
Weitere Kostenlose Bücher