Die Seherin der Kelten
wirklich, er lebt nicht mehr?«
»Nein. Aber ich glaube, er lebt, als ob er tot wäre. Können wir nicht über etwas anderes sprechen?«
»Wenn Ihr möchtet. Oder könntet Ihr Euch vielleicht sogar setzen und Eure legendäre Unerschütterlichkeit zur Schau stellen, während ich die Wunde an Eurem Fußgelenk reinige?«
Corvus setzte sich auf das Bett. Vorsichtig untersuchte Theophilus die bereits heilende Speerwunde an der Wade des Mannes. Die Klinge war kurz über dem Fußgelenk eingedrungen und genau zwischen der Sehne und dem Knochen hindurchgeglitten. Nur einen Finger breit nach links oder nach rechts, und der Präfekt hätte seinen Fuß nicht mehr gebrauchen können. So, wie die Dinge nun aber lagen, würde er wieder genauso geschickt reiten können wie eh und je, wenn er auch niemals wieder so gut wie früher würde gehen können.
Die Wunde war einen Monat alt und schon fast verheilt. Theophilus legte einen neuen, schmäleren Verband an und lauschte in den Atemzügen des anderen nach Lauten des Schmerzes. Als es schien, dass der Schmerz, den sein Eingriff bereitete, wieder nachließ, sagte er: »Wie ich gehört habe, soll morgen nach den Zeremonien im Theater eine Demonstration von Caesars Gerechtigkeit stattfinden?«
»Das habe ich auch gehört. Der Gouverneur möchte seinen bevorzugten Vasallenkönigen gerne beweisen, dass das Gesetz diejenigen, die die römischen Bürgerrechte erlangt haben, ebenso hart bestraft wie jene, die sie nicht besitzen.«
»Also wird ein Mann sterben müssen, um einer Gruppe von hochwohlgeborenen Verrätern zu zeigen, dass sie die richtige Wahl getroffen haben.«
»Um die Könige geht es hierbei nicht - die wissen genau, wen sie brauchen und wer sie braucht. Die Menschen, die es jetzt noch zu überzeugen gilt, sind jene, die in ihren Wäldchen den Aufstand planen und meinen, wir wüssten von nichts. Also werden zwei Männer sterben; einer von den unseren und einer von den ihren, um es gerecht verlaufen zu lassen. Marcellus, der bei der Invasion die zweite Kohorte der Neunten Division angeführt hatte, wird gehängt werden für den Mord an seinem Lagerverwalter, wenngleich Marcellus behauptet, der Mann habe versucht, ihn umzubringen, und er hätte lediglich aus Notwehr gehandelt...«
»Das könnte doch durchaus der Fall gewesen sein.«
»Wahrscheinlich schon. Er hatte nämlich befohlen, einen Landstrich zu pflügen, der, so lange die Trinovanter sich zurückerinnern können, schon immer heilig gewesen war. Ich an ihrer Stelle hätte also wohl ebenfalls versucht, Marcellus umzubringen. Der wiederum hätte seinen Gegner nicht bei helllichtem Tage vor drei Mitgliedern aus dem Haushalt des Gouverneurs und zahllosen Stammeskameraden als Zeugen niederschlagen sollen.«
»Und wer wird morgen das andere Opfer? Vielleicht der Bruder des Mannes, der Marcellus töten wollte?«
»Nein, der ist schon tot; Longinus Sdapeze musste ihn töten, um ihn daran zu hindern, in der noch dort verbliebenen Garnison Amok zu laufen - einen Aufstand können wir uns jetzt nicht leisten. Ich weiß also nicht, wer der zweite Mann sein wird. Ich vermute mal, der Gouverneur weiß es selbst noch nicht. Sie werden per Zufallsprinzip irgendeinen armen Schweinehund herauspicken und dann einen Prozess konstruieren. Wenn beispielsweise einer der Vasallenkönige ein Messer bei sich trägt, das auch nur eine halbe Daumenlänge zu lang ist, wird er gerade noch so lange leben, wie er braucht, um das zu bedauern.«
Theophilus war mit dem Anlegen des Verbandes fertig und trat einen Schritt zurück, um seinen Patienten zu begutachten. »Oder sie könnten auch Euch auswählen, einfach, weil Ihr gerade ein wenig anrüchig ausseht. Als Euer Arzt würde ich Euch also raten, dass Ihr, wenn Ihr tatsächlich vorhaben solltet, kleinen Männern dabei zuzuhören, wie sie nichtssagende Reden schwingen, besser etwas Warmes anziehen solltet, das außerdem nicht so aussieht, als hättet Ihr gerade eine Schlacht darin durchfochten. Wir sollen schließlich eine Provinz in Friedenszeiten darstellen.«
»Danke. Und wenn das dann eines schönen Tages auch mal jemand den Kriegern im Westen sagt, können wir endlich alle wieder nach Hause gehen.« Corvus erhob sich mit einem etwas säuerlichen Lächeln und bewegte versuchsweise sein Fußgelenk ein wenig hin und her. Sein Gesicht zeigte keine offensichtlichen Zeichen des Schmerzes. Demonstrativ auf seinen Stock gestützt fuhr er fort: »Und in Anbetracht dessen sollte ich wohl einfach das
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