Die Seherin der Kelten
ist und dass du nicht länger an mich gebunden bist .
Während der Dunkelheit des Winters und der Nächte, die er wachend damit verbracht hatte, dem fernen Heulen der Bärensänger in dem Großen Versammlungshaus zu lauschen, hatte Valerius sich im Geiste immer wieder jenen Moment ausgemalt, in dem Bellos endlich wieder stehen und ein Schwert halten konnte und zwei seiner Schläge parierte. Oder auch nur einen. Einer würde ja schon reichen.
Valerius kniete sich neben die Strohmatte. Die Sonne war noch immer schwach, und die Schatten, die sie warf, waren noch nicht wirklich schwarz. Bellos lag dort mit dem Kopf auf eine leicht aufwärts gerichtete Schräge gebettet - mac Calma hatte darauf bestanden -, um das Blut daran zu hindern, den Riss in seinem gebrochenen Schädel zu füllen. Valerius tauchte einen Strang noch unverarbeiteter Wolle in einen Eimer mit Wasser und wischte dem Jungen den Schweiß vom Gesicht. Augen in der Farbe von Kornblumen blickten blinzelnd zu ihm auf. Bellos lächelte schwach. »Was passiert, wenn ich nicht versuche, aufzustehen?«
Valerius ließ sich auf die Fersen zurücksinken. »Wenn du es noch nicht einmal versuchen kannst, dann entzünde ich das Feuer und koche das Wasser für den Wermutsud.«
Die großen Augen weiteten sich noch mehr. »Schon wieder? Ich dachte, wir wären damit durch.«
»Nein. Gemäß mac Calmas Anweisungen muss er die ersten neun Tage nach jedem Neumond eingenommen werden, bis du wieder stehen kannst. Gestern war der Tag des alten Mondes. Heute haben wir Neumond.«
»Und wenn ich doch versuche zu stehen?«
»Wenn du dich mehr als eine Handbreit vom Boden erheben kannst, brauchen wir den Wermut nicht mehr, sondern können zu Eisenkraut und Ackerklee überwechseln.« Er grinste aufmunternd. »Das schmeckt dann nur noch nach Hundeurin - nicht mehr wie der verfaulte Dung eines brünstigen Dachses, gewürzt mit verdorbenen Schalentieren, so wie der Wermut.«
»Ich danke dir vielmals.« Bellos’ Augen fielen langsam wieder zu. Seine Kraft war noch begrenzt, und das Sprechen erschöpfte ihn. Dann, ohne die Augen wieder zu öffnen, sagte er: »Weißt du, ich möchte wirklich gerne mal wieder auf echtem Gras mein Wasser lassen, und nicht in einen Becher, den ein anderer Mann mir hält. Meinst du, das wäre ein sinnvolles Ziel, das wir uns einmal vornehmen könnten? Ich weiß, das ist nicht das Gleiche, als wenn ich mit meiner Waffe den Hieb deiner Schwertklinge parieren könnte, aber es wäre schon mal ein guter Anfang.«
Das war sogar ein sehr guter Anfang, und schon bald hielt Valerius ihn an der Schulter, um zu verhindern, dass er vornüberkippte, und Bellos erleichterte sich auf ein Stück guten, alten Moorboden. Zwar war das nüchtern betrachtet nur ein kleiner Erfolg, für Valerius und Bellos aber war er mehr wert als der Sieg über eine ganze Legion. Später an diesem Abend, Bellos saß gegen einen Sack getrockneten Mooses gestützt, verbrannten sie feierlich die letzten Reste von mac Calmas getrocknetem Wermutkraut.
»Du hättest Träumer werden sollen, Julius Valerius, und kein Menschenschlächter.«
Es war Bellos, der dies verkündete, als er eines Abends im Frühling auf seinem kühlen Aussichtsplatz vor dem Haus saß. Er konnte sich nun schon ohne Unterbrechung einen halben Tag lang aufrecht halten und besaß genug Kraft, um seine Meinung kundzutun und selbstständig Wasser zu lassen. Seine Haut schien nicht mehr ganz so dünn und durchscheinend und hatte eine kräftigere Farbe angenommen, so dass seine Adern keine Muster mehr auf seine Schläfen zeichneten und nicht mehr zu pulsieren begannen, sobald er sprach. Noch vor seinen Beinen hatten seine Arme wieder an Kraft gewonnen, und für beides hatte Valerius Bellos einige Übungen aufgegeben. Er hatte ihm Rohlederstreifen gereicht, die Bellos zur Kräftigung und Ertüchtigung seiner Finger in Zöpfe flechten sollte, und, als eine etwas leichtere Übung, eine mit Stroh gefüllte Keilerblase, die er mit den Füßen vom Boden heben musste.
Als Bellos nach einigen Tagen bewiesen hatte, dass er die Blase zwischen seine Fußknöchel geklemmt vom Boden heben und sie so lange in der Luft halten konnte, bis er bis zwanzig gezählt hatte, nahm Valerius ihm die Blase wieder weg und füllte sie mit dem grobkörnigen Sand vom Ufer der Meerenge, ganz in der Nähe von jener Stelle, wo die Fähre auf ihren dreimal täglich stattfindenden Überfahrten zum Festland an- und wieder ablegte. Valerius kehrte gerade
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