Die Seherin der Kelten
seiner Visite also in umgekehrter Reihenfolge vor, begann am südlichen Ende und arbeitete sich dann in nördlicher Richtung den Korridor hinauf, betreute die Hochrangigsten somit als Letzte.
Als Theophilus die Tür am Nordende des Korridors erreichte, war der Raureif draußen bereits geschmolzen; die Dachziegel glänzten unter einem langsam trocknenden Film von Feuchtigkeit. Seit den Tagen, als vier Legionen und ihre Hilfskavallerie diesen Ort zu ihrem Zuhause erkoren hatten, war die Tür zu jenem Raum bereits viele Male neu überstrichen worden; und jedes Mal, in einem Akt von für ihn ganz untypischem Aberglauben, hatte Theophilus darauf bestanden, dass auf die weiße Kalktünche auch stets wieder in blauer Farbe das Auge des Horus gemalt wurde. Für ihn war dies immer Corvus’ Zimmer gewesen, und das war bis heute so. Von all den Armeeoffizieren, die er kennen gelernt hatte - und einige von ihnen hatte er sogar gemocht -, war der dunkle, von Narben bedeckte Kavalleriepräfekt derjenige gewesen, der Theophilus am wenigsten römisch und am stärksten wie ein Grieche erschienen war; die größte Anerkennung, die der Arzt zu vergeben hatte. Die Tatsache, dass der Präfekt nun zurück in Camulodunum war, ließ die Tage ein bisschen heller erscheinen. Und dass Corvus verletzt war und sich als Patient hier befand, dämpfte die Freude lediglich ein wenig.
In dem Raum brannte ein Kohlenbecken, und irgendjemand hatte erst kürzlich kleine Zedernholzspalten darauf gelegt. Näherte man sich dem Zimmer, so erfrischte ihr Geruch sogar ein wenig die Luft im Korridor. Mit einem erneuten Anflug von Fröhlichkeit öffnete der Arzt die Tür.
»Guten Morgen.«
Jener Mann, der unter der strikten Anweisung zurückgelassen worden war, nicht das Bett zu verlassen, stand am Fenster und schaute in den Innenhof hinaus. Doch er stützte das Gewicht, das sonst auf seinem linken Bein gelastet hätte, vorsichtig auf einen Stock. Der Leinenverband, der um die linke Hälfte seines Schädels gewickelt war, wirkte unnatürlich hell vor dem schwarzen Haar und der olivenfarbenen Haut. In seinem Lächeln blitzten wie immer Intelligenz und ein trockener Humor auf. Als die Tür sich schloss, wandte Corvus sich halb vom Fenster ab.
»Was machen Eure Kopfschmerzen?«, fragte Theophilus.
»Besser als vorher.«
»Das habt Ihr gestern auch gesagt.« Der Arzt betastete mit seinen langen Fingern behutsam den Schädel des Patienten. »Aber noch nicht ganz verschwunden?«
»Nicht ganz. Und, ehe Ihr fragt, mein Bein heilt gut. Ich habe heute Morgen einmal unter den Verband geschaut. Euer Rosenwasser und der Honig leisten gute Arbeit. Die Wunde ist schon seit drei Tagen frei von Wundbrand und selbst nachts pocht sie fast gar nicht mehr. Ich denke, es ist an der Zeit, das Opium abzusetzen.«
»Ihr meint, Ihr habt bereits damit aufgehört, es einzunehmen?«
Corvus, Präfekt des Kavallerieflügels, der Ala Quinta Gallorum, und erst kürzlich in den Dienst der im Westen stationierten Zwanzigsten Legion eingetreten, besaß immerhin den Anstand, ein wenig schuldbewusst dreinzublicken. »Die Dosis für die letzte Nacht habe ich schon nicht mehr genommen.«
Theophilus seufzte theatralisch auf. »Erinnert mich daran, Nerus auspeitschen zu lassen, weil er es versäumt hat, dafür zu sorgen, dass ein Patient wie vorgeschrieben behandelt wurde. Ihr solltet es mir sagen, wenn Ihr auch Arzt werden möchtet. Ihr könnt gerne meine Arbeit übernehmen. Ich kehre dann zurück nach Hause, nach Athen.« Der Verband wurde abgenommen, und die Kopfwunde war in der Tat sauber und bereits im Abheilen begriffen. Theophilus besah sich den Verband und beschloss, ihn durch einen aus etwas leichterem Leinengewebe zu ersetzen. Er wandte sich der Beinbandage zu und fragte: »Und wie geht es mit Eurem anderen Vorhaben voran?«
Seit über einem Jahr hatten sie sich darüber nicht mehr unterhalten. Es war ein Zeichen ihres gegenseitigen Respekts, dass Corvus nach einer Weile antwortete: »Valerius? Ich weiß es nicht. Nachdem die anderen nach Mona zurückgekehrt sind, wurde er nach Hibernia gebracht, aber ich habe keine Ahnung, was dann mit ihm passiert ist. Segoventos weigert sich, mit mir darüber zu sprechen, und von denen, die ich ausgesandt habe, war keiner in der Lage, ihn zu finden.«
»Irland ist ja auch keine kleine Insel.«
»Sie ist sogar groß genug, dass ein Mann, der gerne sterben will, dies auch schafft, ohne dass irgendjemand etwas davon mitbekommt.«
»Meint Ihr
Weitere Kostenlose Bücher