Die Seherin der Kelten
nicht rufen. Wenn es der Wille der Götter ist, dass der Junge stirbt, dann wird er sterben. Wenn nicht, wird er leben. Und auch, wenn er blind ist, so ist er ja immer noch am Leben, und das muss reichen.«
Und auch, wenn er blind ist... Valerius hatte Bellos’ Erblindung dem Träumer gegenüber noch gar nicht erwähnt. Efnís konnte dies also nur aus irgendeiner anderen Quelle erfahren haben.
Weiß glühend wallte abermals der Zorn in Valerius auf, und er spürte dessen Druck auf den Wangenknochen und hinter seinen Augäpfeln. Er starrte die Krieger an, und sie erwiderten seinen Blick. Hass prallte auf Hass. Er versuchte gar nicht mehr, die Kampfansage abzumildern, sondern fragte ganz unverblümt: »Hat irgendeiner von euch das heraufbeschworen?«
Drei der Krieger traten vor, und die Hunde zerrten an ihren Leinen. Der Tod der rothaarigen Frau haftete noch immer an ihnen und verlangte nach einer vergleichbaren Rache. In seinem Blut spürte Valerius den Sog des offenen Kampfes wie eine langsam ansteigende Flut. Um Bellos’ willen rang er sie jedoch nieder. »Efnís, hast du ihn erblinden lassen?«
Der Träumer schüttelte den Kopf. »Nein. Aber mac Calma hat gesagt, dass so etwas passieren könnte, wenn der Junge hinfiele. Er ist gefallen, und du bist nun hier und erbittest unsere Hilfe, obgleich du die ganzen sechs Monate zuvor keinen einzigen Schritt auf das Versammlungshaus zugemacht hast. Welchen anderen Grund sollte sein Sturz also wohl haben?«
»Hat mac Calma denn irgendwelche Anweisungen hinterlassen, was ich tun soll, wenn so etwas passiert?«
»Nein.«
Valerius öffnete den Mund, schloss ihn dann aber wieder. Mit Efnís war eine Veränderung vorgegangen, seine Stimme war um einen kaum wahrnehmbaren Deut sanfter geworden. Er hatte zwar nicht gesagt »Es tut mir Leid« - in Anwesenheit der ihn umringenden Menschen konnte er das nicht -, aber für jemanden, der sich verzweifelt danach sehnte, diese Worte zu hören, waren sie da gewesen.
Mit trockenem Mund und voller Angst, seinem Eindruck Glauben zu schenken, fragte Valerius: »Und nun? Was würdest du denn jetzt an meiner Stelle tun?«
Über Efnís’ Gesichtszüge huschte die Andeutung eines Lächelns. »Ich würde träumen, was denn sonst? Dafür bin ich schließlich ausgebildet. Und es ist mein Geburtsrecht. Ich würde mir einen Platz suchen, den die Kraft der Götter speist, und was auch immer ich dort vorfände, würde ich als Hilfsmittel gleich mitverwenden.« Sein Blick glitt an Valerius vorbei zu der Kate hinüber, die etwas weiter den Hügel hinunter und nahe dem Strom lag: die Hütte einer Träumerin, die nun schon seit fast zwanzig Jahren Airmids von den Göttern verliehene Kraft in sich beherbergte und stetig wandelte.
Im allerletzten Augenblick riss Valerius sich doch noch zusammen, so dass er sich nun nicht ebenfalls umwandte und zu der Kate blickte. Stattdessen fuhr er sich in einer linkischen Geste durchs Haar. Er ahnte nicht, wie viel von dem Jungen Bán, der er einst gewesen war, sich in dieser so ganz unüberlegten Handbewegung widerspiegelte. »Nur damit wir uns richtig verstehen«, sagte er. »Du an meiner Stelle würdest versuchen, im Traum mit mac Calma zu sprechen, um ihn so zurückzurufen?«
Mit einer Schulter lehnte Efnís am Türpfosten und zeichnete dabei mit dem Zeigefinger der linken Hand immer wieder den Umriss eines galoppierenden Pferdes nach, das dort in Höhe seines Herzens eingeschnitzt war. »Nein«, entgegnete er. »Ich bin überheblicher. Wenn ich Hilfe bräuchte, würde ich versuchen, im Traum die Götter um Heilung zu bitten. Aber wenn mac Calma mir nicht beigebracht hätte, wie man das bewerkstelligt, dann, ja, dann würde ich vielleicht versuchen, mich zu dem Vorsitzenden des Ältestenrats von Mona vorzuträumen, und ihn um Hilfe bitten. Das wäre fast genauso hilfreich.«
Ich würde träumen. Das ist mein Geburtsrecht.
Die Worte tanzten in den Flammen eines Feuers aus Birkenholz. Einige bekannte Gesichter tauchten neben ihnen auf, verschwanden wieder und warfen ihre Schatten in den Rauch. Aus dem Herzen des Feuers lächelte von Zeit zu Zeit ermutigend Efnís herauf, sprach jedoch nicht. Theophilus, der Arzt der Legionen, schüttelte den Kopf und lachte über die Fantasien barbarischer Gemüter; Xenophon von Kos, der Arzt des Kaisers, lachte nicht, doch er sandte Valerius auch keinen Rat. Longinus Sdapeze grüßte lächelnd, ein Kavallerieoffizier, der nichts, aber auch gar nichts von einem Träumer
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